Gefahr für das europäische Projekt?
14. September 2015Die Grünen-Vorsitzende Simone Peter hat die erneute Einführung von Grenzkontrollen aufgrund der Flüchtlingsströme als "rabenschwarzen Tag für Europa" kritisiert. "Die Bundesregierung verursacht mit ihrer Politik des nationalen Egoismus' neue humanitäre Notlagen an den Grenzen", sagte Peter in Berlin. "Diese verhängnisvolle Entscheidung löst jetzt eine Abschottungs-Kaskade in ganz Europa aus." Es sei zu befürchten, dass das Ideal eines Europas ohne Grenzen unter die Räder komme.
Peters Kollege Cem Özdemir bekräftige seine Kritik an der Entscheidung, an der Grenze zu Österreich wieder zu kontrollieren. "Die Flüchtlinge sind ja damit nicht aus der Welt, sondern wir verlagern das Problem an das jeweils nächste Land", sagte er im Deutschlandfunk. Zugleich erwarte er Solidarität von den europäischen Mitgliedsstaaten. "Wenn jetzt jeder nach dem Prinzip 'Ich bin mir selbst der Nächste' handelt, dann kann man die Europäische Union auch gleich auflösen."
"Abschrecken, abschieben, abstrafen"
Linken-Chefin Katja Kipping warf der Regierung eine menschenverachtende Politik vor. "Abschrecken, abschieben, abstrafen - das ist der menschenverachtende Dreiklang der Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Merkel und ihrem Juniorpartner, der SPD", sagte Kipping der "Welt". Dieser Kurs drohe den freiheitlichen Kern des europäischen Projekts zu zerstören. Indem sie die Grenzen zu Österreich "verriegelt", missachte die Bundesregierung das Leid tausender verzweifelter Menschen.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière hatte wegen der zahlreichen Flüchtlinge am Sonntag angeordnet, vorübergehend wieder die Grenzen zu kontrollieren. Allein am Wochenende waren in München 20.000 Flüchtlinge eingetroffen. Dort konnten sie nach Behördenangaben kaum noch aufgenommen und versorgt werden. Seit Monatsbeginn sind mehr als 70.000 Flüchtlinge eingereist. Die Grenzkontrollen an Bayerns Grenzen zu Österreich sollen es ermöglichen, Flüchtlinge direkt beim Grenzübertritt zu registrieren und in Erstaufnahmeeinrichtungen weiterzuschicken, um das Asylverfahren zu eröffnen.
Keine Grenzschließung
Die Bundesregierung verteidigte ihre Kehrtwende in ihrer Flüchtlingspolitik. "Vorübergehende Grenzkontrollen sind etwas anderes als die Schließung der Grenzen", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Ziel der Kontrollen sei es, bereits beim Grenzübertritt die Identität der Flüchtlinge festzustellen und für das folgende Asylverfahren "einen geordneten Prozess zu ermöglichen". Es bedeute nicht, "dass keine Flüchtlinge mehr nach Deutschland kommen".
Auch Vizekanzler Sigmar Gabriel rechtfertigt die Entscheidung der Regierung. Es gehe darum, in einer "unvorhersehbaren Ausnahmesituation" die Kontrolle über die Grenzen zu erhalten. Es gehe nicht um eine Aussetzung des Grundrechts auf Asyl. Der Wirtschaftsminister sprach zudem von einem "deutlichen Signal" an die europäischen Partner, dass Deutschland nicht im Alleingang alle Flüchtlinge aufnehmen könne. Ohne eine gemeinsame europäische Anstrengung werde die Bewältigung der Flüchtlingskrise nicht gelingen.
Gabriel stellte zugleich die Prognose der Prognose in Zweifel, wonach in diesem Jahr mit 800.000 Flüchtlingen zu rechnen sei. In einem Brief an SPD-Mitglieder schreibt der Parteichef, vieles deute daraufhin, dass Deutschland in diesem Jahr eine Million Flüchtende aufnehmen werde.
"Atempause" notwendig
Die SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi gab zu bedenken, dass Deutschland eine "Atempause" brauche. "Die Geschwindigkeit, mit der uns der Flüchtlingsstrom erreicht, ist fast dramatischer als die absolute Zahl an sich", sagte Fahimi. Es gehe nun darum, den Andrang unter Kontrolle zu bringen und zu verlangsamen. "Was jedoch nicht heißt, dass wir keine Flüchtlinge mehr aufnehmen."
Die deutsche Wirtschaft begrüßte die befristete Wiedereinführung von Grenzkontrollen. So könne eine Überforderung selbst für ein gut organisiertes Land wie Deutschland verhindert und die Dringlichkeit einer europäischen Lösung deutlich gemacht werden, erklärten die Spitzenverbände der Wirtschaft gemeinsam in Berlin. Sie forderten kurzfristig eine abgestimmte und solidarische europäische Asylpolitik aller EU-Mitgliedstaaten.
Zugleich setzten sich der Bundesverband der Deutschen Industrie, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sowie der Zentralverband des Deutschen Handwerks dafür ein, Flüchtlinge mit Bleiberecht schnellstmöglich in Schulen, Weiterbildung oder Job zu vermitteln. "A und O hierfür ist eine frühestmögliche Vermittlung der deutschen Sprache." Daher müsse jetzt vor allem die Sprachförderung zügig und massiv ausgebaut werden.
kle/uh (dpa, rtr, afp)