Zum 200. Geburtstag von Henry David Thoreau
12. Juli 2017DW: Sie leiten Ihr Buch mit folgender Anmerkung ein: "Als ich begonnen habe, das Buch über Thoreau zu schreiben, konnte niemand ahnen, welche Entwicklung die USA in den folgenden Monaten nehmen würde." Auch wenn sie Donald Trump nicht dezidiert erwähnen, nehme ich mal an, dass es um den US-Präsidenten geht - warum leiten Sie ihr Buch so ein?
Dieter Schulz: Die Entwicklung, Stichwort Trump, war auf der einen Seite natürlich unheimlich deprimierend. Ich hätte nie gedacht, dass es so eine Figur so weit bringen würde. Auf der anderen Seite war es dann umso wichtiger für mich, sich mit Thoreau zu beschäftigen. Ich habe mich beim Schreiben des Buches regelrecht aus diesem Sumpf herausgezogen. Sich mit einer Figur wie Thoreau zu befassen, die ja auch als repräsentativ für Amerika steht, im Sinne eines anständigen Amerika, dessen Ideale und Vorstellungen ich sehr bewundere. Das ist vielleicht auch der Duktus des Buches: Ich habe fast eine Art Laudatio geschrieben statt eine kritischen Würdigung.
Welche Ideale und Vorstellungen von Amerika sind das?
Ich finde das, wofür Thoreau steht, die Werte, die er vertreten hat, sehr attraktiv. Gerade in dieser Zeit, wo offenbar das politische Establishment auf breiter Basis, und damit meine ich nicht nur die Republikaner und Trump, versagt hat, ist es ganz wichtig, an so eine Figur zu erinnern. Thoreau vertritt ja eine Tradition des Widerstandes gegen unmoralische Regierungen oder gegen eine rein materialistische Interpretation des amerikanischen Traums.
Auf den ersten - oberflächlichen - Blick könnte man aber zu der Annahme kommen, Thoreau habe sehr viel mit Trump, Steve Bannon oder der Alt-Right-Bewegung etc. zu tun. Warum ist das so grundfalsch?
Ja, es gibt durchaus Leute der extremen Rechten, zum Beispiel die Tea Party, die sich zum Teil auch auf Thoreau berufen. Die Ablehnung und das Misstrauen gegenüber der Regierung, und zwar gegenüber jeder Regierung, egal, was die macht, ist eine große amerikanische Tradition - durchaus eine zwiespältige.
Man muss aber unterscheiden zwischen Leuten, die die Ablehnung des Staates oder staatlicher Regulierung damit begründen, dass sie sich dann umso freier, im Sinne von rücksichtsloser, entfalten können - beim Gelderwerb etwa, bei der Anlage von Aktien und dergleichen. Also die materialistische Variante: Selbstentfaltung im Sinne von ökonomischer Entfaltung. Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite steht jemand wie Thoreau, für den die höchste Instanz, die über der Regierung steht und damit auch oft gegen die Regierung, das Gewissen ist. Also jemand mit einem hohen Gefühl der Verantwortung des Einzelnen. Das Gewissen ist die Instanz, mit der ein höheres Gesetz in uns hineinragt. Dieses Gesetz ist eben auf keinen Fall das Gesetz des Marktes oder das Diktat der Wall Street. Das ist ein großer Unterschied.
Das zweite große Thema, das im Zusammenhang mit Thoreau immer diskutiert wird, bezieht sich auf sein Buch "Walden". Dabei geht es um den Rückzug in die Natur. Doch auch da muss man, wenn ich Ihr Buch richtig verstanden habe, genauer hinschauen. Es war bei Thoreau ja nicht so, dass er damals für eine radikale Abkehr von der Zivilisation plädiert hat, einen Rückzug in die Natur…
Ja, da muss man unterscheiden zwischen dem Thoreau-Kult oder dem Thoreau-Mythos und den tatsächlichen Verhältnissen. Das war keine totale Einsamkeit, in die er sich zurückgezogen hat. Das sagt er ja auch schon am Anfang des Buches. Er baut sich seine Hütte am Rande des Walden-Sees, "A Mile from any Neighbour." Das ist ja keine große Entfernung!
Er brauchte also auf der einen Seite Distanz zur Gesellschaft, um eine Perspektive auf die Gesellschaft zu bekommen. Er meinte, wenn man in diesen Zusammenhängen unmittelbar drinsteht, fällt es sehr schwer, sie kritisch zu hinterfragen. Deshalb auch eine lokale Entfernung, aber eben eine relative Entfernung - in dem Sinn, dass er seine Heimatstadt Concord immer noch im Blick hatte, ständig mit ihr Kontakt hatte. Er hat eigentlich eine Art Pendel-Existenz geführt, er ist fast jeden Tag mal in Concord gewesen.
Es geht also nicht um das reine Leben in der Natur...
Der Ansatz ist der: Rückzug in die Natur, aber nicht um der Natur selbst willen, sondern um von da aus eine Perspektive auf die Gesellschaft und die Zivilisation zu gewinnen. Eine Perspektive, von der aus man die Art, wie die Zivilisation funktioniert, kritisch beleuchten kann. Es geht Thoreau letzten Endes auch um die Zivilisation. Wie man die verbessern kann oder auch deren Schäden in Grenzen halten kann.
...nach zwei Jahren, zwei Monaten und zwei Tagen ist er ja auch zurückgekehrt. - Lassen Sie uns über das Thema Gott und Religion bei Thoreau sprechen. Auch das muss man sehr differenziert betrachten?
Schauen wir auf seine Biografie: Er ist ja, als er zum ersten Mal Kirchen-Steuern zahlen sollte, aus der Kirche ausgetreten. Und es ist auch nicht bekannt, dass er - von ein, zwei Ausnahmen abgesehen - wieder einmal einen Gottesdienst besucht hätte. Also da ist eine sehr starke Skepsis gegenüber Kirche und Religion in ihrer etablierten Form.
Auf der anderen Seite ist bei Thoreau doch ein sehr starker religiöser Impuls vorhanden. Wie er mit der Natur umgeht: Die Naturstudien sind sehr intensiv, sehr akribisch, mit einer Fülle an Daten und Fakten, vor allem in seinen Tagebüchern. Aber letztendlich ist für ihn die Natur, was sie auch für seinen Lehrmeister Ralph Waldo Emerson war, das sichtbare Gewandt Gottes. Über die Natur findet er Zugang zu einem spirituellen Prinzip. Durch gesellschaftliche Mechanismen wird Natur verdeckt. Natur ist nicht mehr zugänglich…
Nach Lektüre Ihres Buches kommt man zu dem Eindruck, dass dieser Schriftsteller zwar heute hochaktuell ist - was die vielen Menschen beweisen, die sich in Wort und Schrift und auch in ihrer Lebensplanung auf ihn berufen -, dass jede Vereinfachung bei Thoreau aber doch zu kurz greift. Woran genau kann man seine Aktualität denn festmachen?
An seinen Naturstudien zum Beispiel. Es gibt Naturwissenschaftler, die heute unmittelbar an ihn anknüpfen, etwa in der Klimaforschung. Thoreau war einer der ersten, der über einen längeren Zeitraum Klimaveränderungen, den Wechsel der Jahreszeiten, verfolgt und dokumentiert hat. Vor ein paar Jahren gab es eine Studie von einem Geologen, der meinte, dass die Art, wie Thoreau die Phänomene dargestellt hat, hochaktuell ist. Vor allem die größeren Zusammenhänge: Was alles miteinander vernetzt ist - in der Naturwissenschaft werden ja häufig nur Einzelphänomene erforscht, sie werden oft isoliert betrachtet. Aber vernetzt und über einen größeren Zeitraum, wie bei Thoreau, kann das geradezu als Modell dafür dienen, wie man Klimaforschung heute betreiben kann.
Fallen Ihnen noch weitere Beispiele ein?
Ja, ganz aktuell. Mark Greif, einer der Vordenker von "Occupy Wall Street", sagt, nicht nur Allgemein könne man von Thoreau und seinem Essay "Civil Obedience" eine Menge lernen. Auch zum Teil in ganz konkreten Punkten. Etwa bei der Deportation von illegalen Einwanderern. Thoreau hat sich ja dafür eingesetzt, dass entlaufene Sklaven in die Freiheit nach Kanada befördert - und nicht ihren Eigentümern im Süden der USA zurückgegeben wurden.
Greif meint, dass man heute bei gesellschaftlichen und politischen Problemen durchaus so etwas wie einen "Thoreau"-Test machen könnte. Er nennt das dann WWTD: What would Thoreau do? Das heißt, wie hätte Thoreau in der Gesamthaltung zum System gedacht und gehandelt? Auch bis ins Konkrete hinein, bei handfesten, konkreten Problemen. Von daher wächst Thoreau durch ein Phänomen wie Donald Trump eine enorme Aktualität zu - gerade im letzten halben Jahr!
Das Gespräch führte Jochen Kürten.
Von Dieter Schulz liegt beim Mattes-Verlag die Biografie "Henry David Thoreau - Wege eines amerikanischen Schriftstellers" vor, 246 S., ISBN 978-3-86809-120-5. Gerade erschienen ist auch die Biografie von Frank Schäfer: Henry David Thoreau - Waldgänger und Rebell", Suhrkamp Verlag, 252 Seiten, ISBN: 978-3-518-46769-5.