Litauen: "Systemgegner" wollen ins Präsidentenamt
11. Mai 2024Ein Kandidat musste wegen antisemitischer und fremdenfeindlicher Äußerungen das Parlament verlassen. Ein zweiter erkennt Wladimir Putins Ansprüche auf Teile der Ukraine an und einer von will die eingefrorenen Beziehungen zu China auftauen. Mehrere haben sich zu Corona-Zeiten mit der vehementer Kritik an der Pandemiepolitik profiliert.
Im Kampf um die Präsidentschaft Litauens haben sich eine Reihe Kandidaten aufstellen lassen, die Politologen als "Systemgegner" einstufen. Und nicht alle gelten als chancenlos.
Litauen hat nur 2,7 Millionen Einwohner, aber mit Grenzen zu Russland und Belarus ist es wichtig für die Verteidigung der NATO-Ostflanke. Die Bündnispartner verfolgen die Politik dort genau - erst recht im Superwahljahr 2024: Im Mai wählt Litauen einen Präsidenten, im Juni seine Abgeordneten im Europäischen Parlament und im Oktober das heimische Parlament, den Seimas. Parallel zur ersten Runde der Präsidentschaftswahl an diesem Sonntag findet ein Referendum darüber statt, ob litauischen Bürgern eine zweite Staatsbürgerschaft erlaubt werden soll, was bisher nur in Ausnahmefällen möglich ist.
Verteidigung gegen Russland wichtigstes Wahlkampfthema
"Drei Hauptthemen beschäftigen die Bürger heute", sagt Vincentas Vobolevičius von der privaten ISM University of Management and Economics in Vilnius im Gespräch mit der DW. "Laut Meinungsumfragen ist das die nationale Sicherheit, vor allem alles, was mit Russland und dem Krieg gegen die Ukraine zusammenhängt." Doch auch steigende Preise und die Unzufriedenheit mit inkompetenten Politikern und der Bürokratie spielten eine Rolle.
Auf Inflation und Bürokratie hat der Präsident allerdings keinen Einfluss. Gemäß der Verfassung liegen seine Befugnisse in der Außen- und Verteidigungspolitik. Und die sind seit der Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit im Jahr 1990 durch enge Kooperation mit den USA und anderen NATO-Verbündeten geprägt.
Seit Russland 2014 Teile der Ukraine besetzte und annektierte, sind die Abwehr der Aggression des Kremls und die uneingeschränkte Unterstützung der Ukraine ins Zentrum dieser Politik gerückt. Der amtierende Präsident, der 60-jährige, parteilose Gitanas Nausėda, wie auch Premierministerin Ingrida Šimonytė, die ebenfalls um das höchste Amt im Staat kandidiert, gelten als unerschütterliche Transatlantiker.
Herausforderer äußert Zweifel am Sieg der Ukraine
Doch einige der acht Kandidaten, die an diesem Sonntag in der ersten Runde um die Präsidentschaft der Republik Litauen antreten, stellen die Westbindung des Landes in Frage. Einer von ihnen ist der 49-jährige Anwalt Ignas Vėgėlė, der sich unter anderem für engere den Beziehungen zu Peking einsetzt.
Auch Vėgėlė spricht von der Notwendigkeit, die Verteidigungsfähigkeit und die Beziehungen zur NATO zu stärken. Andererseits bezweifelt er öffentlich, dass die Ukraine Russland besiegen kann. Kiew werde Friedensverhandlungen mit Moskau aufnehmen müssen, sagte der Herausforderer: "Ansonsten könnte die Eskalation auch uns in Litauen treffen." Bis vor Kurzem war eine solche Sichtweise in Litauen noch äußerst unbeliebt. Doch Vėgėlė hat Chancen, in die Stichwahl einzuziehen. In manchen Umfragen liegt er mit rund 12 Prozent knapp vor Premierministerin Šimonytė auf dem zweiten Platz und hinter Amtsinhaber Nausėda mit gut 30 Prozent.
Für Putin, gegen LGBTQ+-"Ideologie"
Bei früheren Umfragen hatten noch rund 44 der Befragten angegeben, den Amtsinhaber wählen zu wollen. Doch nun scheint klar, dass er sich nicht in der ersten Runde durchsetzen wird. Ein Grund könnten die schlechten Beziehungen zwischen Nausėda und dem Koalitionskabinett aus Christdemokraten und zwei liberalen Parteien unter Šimonytė liegen: Streit über Personalfragen und gesellschaftlich sensible Themen wie LGBTQ+-Rechte und die Einführung einer Lebenspartnerschaft neben der Ehe sind häufig.
Herausforderer Vėgėlė punktet mit der Stigmatisierung der LGBTQ+-"Ideologie". Kritik an Minderheiten üben aber auch der unabhängige Kandidat Eduardas Vaitkus sowie der ehemalige Seimas-Abgeordnete Remigijus Žemaitaitis, den die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung als "radikal rechten Demagogen" bezeichnet. Žemaitaitis musste jüngst wegen antisemitischer Äußerungen als Parlamentsabgeordneter zurücktreten. Vaitkus lehnt die Mitgliedschaft Litauens in der Europäischen Union und der NATO ab und ist - wie Vėgėlė - bekannt für seine Abneigung gegen Verbote während der COVID-19-Pandemie.
Vaitkus vertritt zudem die Meinung, dass der Ukraine-Krieg in Wirklichkeit vom Westen entfesselt worden sei und die von Russland annektierte ukrainische Halbinsel Krim zu Russland gehöre. Fast fünf Prozent der Wähler waren laut Umfragen im April bereit, für Vaitkus zu stimmen, und fast neun Prozent für Žemaitaitis. Bei der letzten Präsidentschaftswahl 2019 spielten Kandidaten mit solchen Positionen noch keine Rolle.
Soziale Netzwerke für Desillusionierte
"Sowohl Vaitkus als auch Žemaitaitis und Vėgėlė sind Politiker einer neuen Ära der sozialen Netzwerke", sagt Mantas Martišius, Politikwissenschaftler und Medienexperte von der Universität Vilnius. Traditionelle Medien hätten seit 2019 deutlich an Einfluss verloren, betont er. Darunter würden vor allem der Präsident, der Premier und die Minister leiden: "Sie sind in erster Linie Hauptfiguren des Fernsehens, Radios, von Zeitungen und traditionellen Internetportalen."
Žemaitaitis oder Vėgėlė hingegen würden vor allem soziale Netzwerke nutzen, die einen direkten Zugang zu potenziellen Wählern böten. "Vor einiger Zeit konnte sich niemand vorstellen, dass solche Personen Unterschriften zusammenbekommen könnten, um sich selbst aufzustellen, aber sie haben es geschafft", so Martišius.
Der Experte glaubt, dass Rhetorik "gegen das System" nicht nur schlecht gebildete und arme Bewohner der Provinz anspricht: "Zwar herrscht auf dem Lande die Abneigung gegenüber LGBTQ+-Menschen vor, doch auch in den Großstädten ist die Lage diesbezüglich nicht eindeutig", meint Martišius.
"Der Aufstieg systemfeindlicher Politiker bei dieser Wahl ist eine Folge der wachsenden Desillusionierung eines Teils der Gesellschaft über die wirtschaftliche Globalisierung und die moralischen Werte der Mitte-Links-Partei, die im Allgemeinen von allen großen Parteien unterstützt werden", glaubt Vincentas Vobolevičius vom ISM.
Demoskopen sehen Amtsinhaber Nausėda als Sieger im zweiten Wahlgang. Viel hänge jedoch von der Wahlbeteiligung ab, die bei den letzten Wahlen bei 50 Prozent lag. Die Wahl des Staatsoberhauptes könnte zudem eine Generalprobe für die Parlamentswahl im Herbst sein. Und hier könnten unangenehme Überraschungen auf für die etablierten Politiker des Landes lauern. Die rechts-nationalistische Partei "Morgendämmerung von Nemunas" von Remigijus Žemaitaitis kommt laut aktuellen Umfragen auf die fünf Prozent, die für den Einzug ins Parlament erforderlich sind.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk