Grundrechte für Europa
19. November 2009Eigentlich sind es zwei Verträge, die in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon am 13. Dezember 2007 unterzeichnet wurden. Zum einen der Vertrag über die Europäische Union und zum anderen der Vertrag über die Arbeitsweise der Union. Der Vertrag von Lissabon besteht zu großen Teilen aus Protokollen, Anhängen und Erklärungen, in denen die Mitgliedsstaaten eine große Zahl an Ausnahmen für sich verhandelt haben.
Der Lissabon-Vertrag hat die bis dahin gültigen Verträge von Rom, Maastricht, Amsterdam und Nizza zusammengeführt und deren Inhalte gebündelt. Einige neue Institutionen, Kompetenzen und Verfahren kamen hinzu, aber grundlegend anders als seine Vorgänger ist der EU-Vertrag, der 2009 in Kraft getreten ist, nicht.
Keine Verfassung für die EU
Er ist keine Verfassung und eigentlich rechtlich gesehen nichts Besonderes, glaubt Christoph Möllers, Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität in Berlin. Seit den Römischen Gründungsverträgen von 1958 hätten die Mitgliedsstaaten immer völkerrechtliche Verträge geschlossen, in denen sie verabreden, bestimmte Organe zu gründen. Das sei auch beim Vertrag von Lissabon nicht anders gewesen, so Möllers. "Insofern ist es also nichts Neues, aber der Witz an der europäischen Integration ist ja, dass sie in kleinen Schritten verläuft. Deshalb wird man nie diesen einen archimedischen Punkt haben, wo man sagen kann: Hier ist mit einem Schlag etwas ganz Neues entstanden."
Man müsse aber vergleichen, wie die EU vor 30 Jahren ausgesehen habe und wie sie heute aussehe. Dann sehe man, wie unglaublich sie sich verändert habe, sagt Professor Möllers.
Grunderechte erstmals im Europarecht
Der Vertrag von Lissabon hat zum ersten Mal einen allgemeinen Grundrechtekatalog zum Bestandteil des EU-Rechts gemacht. Die in nationalen Verfassungen garantierten Grundrechte wurden dadurch aber nicht verändert. Dennoch haben Großbritannien, Polen und Tschechien für sich eine Ausnahme ausgehandelt. Dort gilt der Grundrechtekatalog nicht unmittelbar.
Jo Leinen ist Europaparlamentarierer und ausgebildeter Jurist. Er erklärt, dass die Grundrechte durch den Lissabon-Vertrag nicht für jeden Bürger vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg einklagbar geworden sind. "Der Klageweg geht weiter über die nationalen Gerichte", sagt Leinen. "Ich kann nicht als Bürger direkt zum EuGH nach Luxemburg gehen - es sei denn, eine Entscheidung der EU betrifft einen Bürger unmittelbar. Das ist aber sehr selten der Fall, weil wir Gesetze machen, die noch national umgesetzt werden müssen. Aber der Grundrechtekatalog ist Maßstab für die Auslegung europäischer Hoheitsgewalt."
Konkurrenz zwischen EuGH und nationalen Gerichten
Die Konkurrenz zwischen dem Europäischen Gerichtshof und nationalen höchsten Gerichten, wie etwa dem Bundesverfassungsgericht, besteht auch mit dem Lissabon-Vertrag weiter. Eine genaue Definition, welches Gericht letztinstanzlich was entscheiden kann, enthält der Vertrag nicht. Darin sieht der Europarechts-Experte Christoph Möllers kein Problem. Beide Gerichte, EuGH und Bundesverfassungsgericht, würden parallel urteilen und sich gegenseitig beeinflussen. "Dieser Konflikt ist nichts Dramatisches, sondern in föderalen Ordnungen relativ selbstverständlich. Der Witz ist, dass die Fragen nie abschließend beantwortet werden und beide Gerichte darauf Wert legen, dass sie etwas zu sagen haben." Es sei ein dynamischer Prozess, sagt Möller. Es bleibe ein Gleichgewicht oder Ungleichgewicht, das man nicht dadurch arretieren könne, dass man sage: Jetzt habe der EuGH oder das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort.
Autor: Bernd Riegert
Redaktion: Mareike Röwekamp