Anne Franks Romanfragment "Liebe Kitty"
3. August 2019Mit etwas mehr Glück und weniger menschlicher Schlechtigkeit hätte sie diesen Tag vielleicht erlebt: 90 Jahre alt wäre Anne Frank am 12. Juni geworden - wären sie und ihre Familie nicht verraten worden. Am 4. August 1944, vor genau 75 Jahren, stürmten die Nazis das Hinterhaus in Amsterdam, in dem die Franks zwei Jahre lang versteckt gelebt hatten. Sie wurden verhaftet und nach Auschwitz deportiert.
Junge Tote bleiben immer jung, und so ist es auch mit Anne Frank. Sie wird für immer das 15-jährige Mädchen sein, das in ihrem Tagebuch den Ersatz für eine Freundin und Gesprächspartnerin suchte. Und das den einen großen Wunsch hatte: Sie wollte als Schriftstellerin leben. "Nach dem Krieg möchte ich unbedingt ein Buch mit dem Titel 'Das Hinterhaus' herausbringen", schrieb Anne am 11. Mai 1944 in ihr Tagebuch. Weniger als drei Monate später wurde sie zusammen mit den anderen sieben Versteckten deportiert. Sie starb im Februar 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen, an Fleckfieber, Erschöpfung und Unterernährung.
"Das Hinterhaus" - erste Fassung eines Weltklassikers
Ihr Tagebuch aber blieb erhalten und wurde zu einem der bekanntesten und meistgelesenen Bücher der Welt. Otto Frank, Annes geliebter Vater, der als einziger aus der Familie das Konzentrationslager lebend verlassen konnte, erfüllte ihr Vermächtnis und editierte das vollgeschriebene rot-beige Tagebuch und viele lose Blätter, Aufzeichnungen auf der Rückseite von Rechnungen oder in Kontobüchern. Zwei Jahre nach Kriegsende, am 25. Juni 1947, erschien "Het Achterhuis - Das Hinterhaus". Die erste Auflage von 1500 Büchern war schnell vergriffen.
Erst 1986 auf Niederländisch, auf Deutsch 1988, erschien der vollständige, historisch-kritisch bearbeitete Text. Mirjam Pressler, die im Januar 2019 verstorbene großartige Übersetzerin und Autorin, hat diese Fassung auf der Basis der von Otto Frank bearbeiteten Vorläuferversionen gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern ediert. Ohne die Auslassungen, die Anne Franks Vater in seiner ersten Ausgabe aus Diskretion vorgenommen hatte, Abschnitte, die sich auf Anne Franks Mutter und Annes Gedanken zur Sexualität beziehen.
Zu der Zeit war "Das Tagebuch der Anne Frank" nach einer Hollywood-Verfilmung in den 1950er Jahren, weiteren Filmen und Theaterstücken in vielen Sprachen längst zu einem Weltklassiker geworden. Inzwischen gehört "Anne Frank Tagebuch" in Deutschland zur unerlässlichen Schullektüre. Die bekannte Taschenbuchausgabe des Fischer Verlags findet sich in vielen deutschen Haushalten.
"Liebe Kitty" wird zum Bestseller
Aktuell stehen Anne Franks Aufzeichnungen über ihr Leben im Hinterhausversteck an der Spitze der Independent-Bestsellerliste, die Veröffentlichungen aus 160 unabhängigen Verlagen berücksichtigt. Dabei ist es, abgesehen von ein paar Notizen auf zwei zusammengeklebten Blättern, bereits 20 Jahre her, dass die letzten fünf bis dahin unbekannten Seiten entdeckt und dem Buch hinzugefügt wurden. Was also könnte neu sein und diesen aktuellen Erfolg des Klassikers begründen?
Im März 1944 forderte der niederländische Bildungsminister Gerrit Bolkestein über den illegalen BBC-Sender "Radio Oranje" die Bevölkerung im besetzten Vaterland dazu auf, Briefe und Tagebücher aufzuheben. "Stell Dir mal vor, wie interessant es wäre, wenn ich einen Roman über das Hinterhaus herausbringen würde", richtet sich Anne an ihre imaginäre Tagebuchfreundin Kitty. Danach muss sie wie besessen geschrieben haben. Bis zu jenem verhängnisvollen 4. August 1944, als die Polizeiaktion in der Prinsengracht 263 dem Leben im Versteck ein Ende machte, hatte sie 215 Blätter vollgeschrieben, um auf der Basis ihrer Tagebucheinträge eine erste, zur Veröffentlichung bestimmte Romanfassung zu schaffen.
Das Ergebnis war keine Abschrift, sondern eine strenge und selbstkritische Überarbeitung ihrer in Briefform formulierten Beobachtungen und Gedanken als Untergetauchte. Dieses Manuskript bildete zusammen mit den anderen Original-Dokumenten, dem Tagebuch und der Loseblattsammlung, die Grundlage für alle späteren Ausgaben.
Romanfragment mit Tiefe
Dass es dieses Jahr zum ersten Mal als eigenständiges Romanfragment und in einer neuen Übersetzung herausgegeben wurde, würdigt das vielversprechende literarische Talent Anne Franks. "Ich wusste gar nicht, dass meine kleine Anne so tief war", sagte Otto Frank Jahre nach ihrem Tod. Ihre Tagebuchaufzeichnungen umfassen 779 Tage Leben, 753 davon im Versteck der Zimmer hinter einem Aktenschrank im Bürogebäude ihres Vaters. "Liebe Kitty", so der Titel dieser Roman-Edition, umfasst die Zeit vom 12. Juni 1942 bis zum 29. März 1944, weiter kam Anne Frank mit ihrer Neufassung nicht.
Vergleicht man sie mit der ursprünglichen Tagebuch-Fassung, soweit diese erhalten ist, zeigt sich der literarische Sachverstand der gerade 15-Jährigen. "Sie ließ manche Eintragungen ganz weg, überarbeitete andere, fügte neue Beschreibungen, Erkenntnisse und verbindende Gedanken hinzu und schuf so einen interessanten, höchst lesbaren Text", schreibt die Literaturwissenschaftlerin Laureen Nussbaum in ihrem Nachwort. Als Freundin der Familie und Anne-Frank-Forscherin in Seattle hat sie, wie sie sagt, 25 Jahre auf eine solche Ausgabe gewartet.
Würdigung als Schriftstellerin
"Das ist die große Frage, werde ich jemals etwas Großes schreiben können, werde ich jemals Journalistin und Schriftstellerin werden? Ich hoffe es, ich hoffe es so sehr!" Anne Franks Wunsch, den sie ihrem Tagebuch am 5. April 1944 anvertraute, ist mit der Neuausgabe in diesem Jahr, die ihr als junge Schriftstellerin Geltung verschafft, endgültig in Erfüllung gegangen.
Anne Frank: "Liebe Kitty. Ihr Romanentwurf in Briefen", übersetzt von Waltraud Hüsmert, Secession Verlag für Literatur, Zürich 2019, 208 Seiten