Libyens langsamer Zerfall
13. November 2014Bombenanschläge in Tripolis, Explosionen in der ostlibyschen Stadt Tobruk, tödliche Kämpfe rivalisierender Milizen in Bengasi - kaum ein Tag vergeht ohne grausame Nachrichten aus Libyen. Am Donnerstag explodierten zwei Autobomben in der Hauptstadt. Am Mittwoch starben bei mehreren Anschlägen im Osten des Landes mindestens fünf Soldaten. Die jüngsten Vorfälle zeigen, dass es den Verantwortlichen immer weniger gelingt, die Sicherheitslage in den Griff zu bekommen.
Zwei Regierungen, zwei Parlamente
Kein Wunder: In Libyen beanspruchen zwei Parlamente und zwei Regierungen die Macht. Die einen werden von Islamisten dominiert, die anderen von deren Gegnern. Beide kämpfen um Einfluss, Geld und Ressourcen und stützen sich auf die zahlreichen Milizen im Land. Die bewaffneten Gruppen hatten gemeinsam gegen Libyens langjährigen Machthaber Muammar al-Gaddafi gekämpft. Doch seit seinem Sturz versuchen sie, ihre eigenen Interessen durchzusetzen - mit verheerenden Folgen. "In Libyen herrscht eine Art Bürgerkrieg, der durch Attentate, Bombenanschläge und Entführungen gekennzeichnet ist und ein normales Leben unmöglich macht", sagt Günter Meyer, Professor für Wirtschaftsgeographie und Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Universität Mainz.
Die schlechte Sicherheitslage liegt auch darin begründet, dass die politischen Institutionen in Libyen stark geschwächt oder gar nicht erst vorhanden sind. Dafür hatte schon Gaddafi gesorgt. Der selbst ernannte Revolutionsführer wollte jede mögliche Konkurrenz im Keim ersticken. So vernachlässigte er zum Beispiel die Armee und die regulären Sicherheitskräfte zugunsten ihm ergebenen Palastgarden. Nach Gaddafis gewaltsamem Tod war der Plan, die Milizen in die neu entstehenden Sicherheitskräfte einzugliedern. Doch das ist nicht geglückt - im Gegenteil: Die Milizen bekommen zwar ihr Geld vom Staat, kämpfen aber eher für die Interessen ihres Stammes oder ihrer Stadt als für die der Polizei oder der Armee.
Tobruk gegen Tripolis
Manche Beobachter rechnen bereits mit einem Zerfall des Landes, das ohnehin noch nicht lange eine Einheit bildet. Erst 1963 wurden die bis dahin weitgehend autonomen Landesteile Tripolitanien, Cyrenaika und Fassan zu einem Zentralstaat zusammengefasst. Diese Einheit ist heute stark gefährdet. Denn die Islamisten haben ihre eigene Wahlniederlage nicht anerkannt und im August mit Hilfe von Milizen aus Misrata die Hauptstadt Tripolis erobert. Außerdem setzten sie durch, dass das im Juni gewählte Parlament durch einen Beschluss des Obersten Gerichtshofes für illegal erklärt wurde. Statt dessen setzten die Islamisten ein eigenes Parlament ein.
"Das Ganze ist auch ein Stellvertreterkrieg innerhalb der arabischen Welt", erklärt Nahost-Experte Meyer. "Das islamistische Lager wird von Katar und von der Türkei unterstützt, während die offiziell anerkannte Regierung von Ägypten und den Vereinigen Arabischen Emiraten Hilfe bekommt." Das offiziell gewählte Parlament tagt deshalb nicht länger in Tripolis, sondern ist in die Stadt Tobruk in der Nähe der ägyptischen Grenze ausgewichen. Doch auch im Osten des Landes gibt es Spannungen zwischen den Islamisten und ihren Gegnern. Der pensionierte General Khalifa Haftar, der Ende der 1980er Jahre mit Gaddafi gebrochen hatte, kämpft in der Stadt Bengasi mit seiner so genannten Libyschen Nationalarmee gegen die islamistischen Milizen und ihren Einfluss im ganzen Land.
Sehnsucht nach Stabilität
Tatsächlich gilt Libyen längst als Rückzugsgebiet für Dschihadisten. In der ostlibyschen Stadt Derna, einer Islamisten-Hochburg schon zu Gaddafi-Zeiten, hat der "Schura-Rat der Jugend des Islam" dem Kalifat der Terrormiliz "Islamischer Staat" die Treue geschworen. Sie kontrolliert bereits weite Gebiete im Irak und im Norden Syriens. Auch in Derna haben staatliche Einrichtungen kaum noch Einfluss. Angesichts dieser Verhältnisse sei es "völlig unstrittig", dass der Staat in Libyen gescheitert sei, sagt Günter Meyer. Es gebe keine staatlichen Autoritäten, die das Land kontrollierten, und die Situation habe sich in den vergangenen drei Jahren dramatisch verschlechtert. "Viele Libyer", sagt Meyer, "sehnen sich nach den stabilen Verhältnissen unter Gaddafi zurück - obwohl er ein autoritärer Herrscher war."