Libyen siebt frühere Gaddafi-Funktionäre aus
2. Juni 2013Libyens Parlamentspräsident Mohammed al-Magarief (Foto) hat bei seiner Rücktrittsrede nicht mit Kritik gespart. Wenn eine Nation die Opfer ihrer Bürger nicht anerkenne, begehe sie eine schwere Sünde an ihrer Geschichte und ihrer Zukunft. Al-Magarief sprach am 28. Mai 2013 von einer "kollektiven Ungerechtigkeit". Als Opfer sieht er offenbar sich selbst. Das Übergangsparlament hatte Anfang Mai ein Gesetz verabschiedet, das einstige Spitzenbeamte des Gaddafi-Regimes vom Staatsdienst ausschließt. Al-Magarief wurde zum Verhängnis, dass er einst libyscher Botschafter in Indien war, bevor er in den 1980er Jahren zur Opposition wechselte. Vielen Politikern und Funktionären in dem nordafrikanischen Staat wird es ähnlich ergehen, wenn das Gesetz am 5. Juni in Kraft tritt. Sie müssen dann ihre Posten räumen.
Wer neuer Parlamentspräsident wird, war zunächst unklar. Da es noch keinen gewählten Präsidenten gibt, war al-Magarief de facto auch Staatsoberhaupt. Der Vizechef des Parlaments, Dschuma Attaiga, könnte auf seinen Posten nachrücken. Aber auch er dürfte nach dem neuen Gesetz belastet sein. Dann würde die Führung bis zu einer internen Wahl des völlig zersplitterten Parlaments vermutlich dem ältesten Abgeordneten zufallen, erklärte ein Sprecher der Volksvertretung.
Weitere Minister-Rücktritte erwartet
Das Gesetz wird nach Einschätzung von William Lawrence vom Konfliktforschungszentrum Crisis Group noch viel Unruhe verursachen. Der Landwirtschaftsminister hat dem Nordafrika-Experten zufolge ebenfalls seinen Rücktritt eingereicht. "Wir erwarten, dass vermutlich drei bis vier weitere Minister ausgewechselt werden, darunter der Verteidigungsminister und der Generalstabschef", sagt Lawrence der Deutschen Welle.
Regierungschef Ali Saidan kann sich offenbar noch halten, obwohl aufgebrachte Demonstranten vor Wochen auch schon seinen Rücktritt verlangt hatten. Saidan war wie al-Magarief an der Botschaft in Indien beschäftigt, hatte aber damals einen niedrigeren Rang. Deshalb könne er weitermachen, meint Lawrence. "In vielen Fällen ist immer noch unklar, wer zurücktreten muss und wer nicht. Bis das geklärt ist, sind die Neubesetzungen problematisch", beschreibt er die verfahrene Situation.
Gesetz soll der 'Ent-Gaddafisierung' dienen
Die Details des Gesetzes werfen viele Fragen auf. "Es gibt 23 Kategorien von Leuten, die nicht in der Regierung sein dürfen", erläutert Lawrence. Einige Formulierungen seien jedoch sehr vage. So sollen auch alle aussortiert werden, die in Korruption verwickelt waren oder gegen die Revolution gearbeitet haben. Damit ließen sich sehr viele Leute ausgrenzen. "Einige Leute bezeichnen das als Ent-Gaddafisierungsgesetz wie das Ent-Baathifizierungs-Gesetz im Irak", erklärt der Analyst. Im Irak waren nach dem Sturz Saddam Husseins die Mitglieder der lange regierenden Baath-Partei gefeuert worden.
Die politische Landschaft in Libyen ist gespalten in der Frage, wie mit dem Erbe der 42-jährigen Gaddafi-Herrschaft umzugehen ist. Das eine Lager aus verschiedenen konservativen und moderaten Kräften will im Interesse des eigenen Machterhalts einen Schlussstrich unter die Umbrüche der Revolutionsphase ziehen. Al-Magarief stehe für einen nennenswerten Teil der Bevölkerung, der irgendwie mit dem Regime Kontakt hatte, sagt Anas al-Gomati, Gründer der libyschen Denkfabrik Sadeq Institute. "Viele Leute im Nationalen Übergangsrat, dem Rebellenrat während der Revolution, waren Abtrünnige des Regimes", betont al-Gomati.
Angst vor alten Seilschaften
Zum anderen Lager gehören Politiker und Kommandeure einiger Milizen, die alle Vertreter des alten Regimes verdrängen wollen. Sie fürchten, dass sonst die früheren Seilschaften doch die Kontrolle behalten. Um ihre Ziele zu erreichen, setzen sie auch auf massive Einschüchterung. So waren schwer bewaffnete Kämpfer in Tripolis aufmarschiert, um die Abgeordneten vor der Abstimmung über das Gesetz zu beeinflussen.
Mit den Politikern und Beamten wird auch eine Menge Sachkompetenz aus dem öffentlichen Dienst verbannt. Al-Gomati, der auch für das Nahost-Zentrum der Carnegie-Stiftung arbeitet, sieht den drohenden Kompetenzverlust mit Sorge. Der Politikwissenschaftler begrüßt zwar grundsätzlich den Ausschluss einstiger Funktionäre. Es seien jedoch Übergangsfristen nötig, um das Land nicht ins Chaos zu stürzen. Für Verwaltung, Wirtschaft und Politik seien erfahrene Leute nötig.
Widerstand gegen Politiker-Ausschluss denkbar
Ob sich alle Führungsbeamte des gestürzten Regimes ohne Gegenwehr aus dem Amt drängen lassen, war vorerst offen. Al-Gomati rechnet bei den meisten Betroffenen nicht damit, dass sie zu den Waffen greifen. Sollte es aber auch zu politischen 'Säuberungen' in den Sicherheitskräften kommen, dann könnte die Lage doch eskalieren.
Für ausländische Regierungen und Firmen wird die Suche nach Ansprechpartnern in den libyschen Ministerien noch komplizierter. Nach Einschätzung von Lawrence werden europäische Vertreter in Tripolis häufig zu hören bekommen: "Wartet ab, bis ihr seht, wer verantwortlich in diesem Ministerium oder dieser Behörde ist."