Libanon: Letzte Hoffnung auf Wandel
14. Mai 2022An diesem Sonntag wird im Libanon ein neues Parlament gewählt. Es ist die erste Wahl seit den Protesten vom Oktober 2019 und seit der gewaltigen Explosion im Hafen von Beirut, die Teile der Stadt in Schutt und Asche gelegt und Hunderte Menschen das Leben gekostet hat. "Diese Wahl ist sehr wichtig für uns", sagt Amal Nassereddine. Bis auf ein Mal, erzählt die 38-Jährige, habe sie immer einen leeren Stimmzettel abgegeben. "Es war jedes Mal völlig klar, dass die korrupte politische Elite wiedergewählt würde." Doch dieses Mal, hofft sie, wird es anders sein. "Diese Wahl ist unsere letzte Hoffnung auf den Beginn eines politischen Wandels."
Amal Nassereddine lebt etwa 20 Autominuten südlich von der Hauptstadt Beirut entfernt. Die Ärztin hat neben der libanesischen auch die US-Staatsbürgerschaft. Das Land mit Mann und Kindern verlassen will sie nicht. Aber sie wünscht sich, in einem Land zu leben, in dem man es sich leisten kann, Lebensmittel zu kaufen, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen und das Auto zu betanken.
Die alte politische Klasse und ihre Unterstützer, sagt sie, hätten das Land über Jahrzehnte hinweg nahezu ausgeraubt und seien jetzt nicht imstande, da es wirtschaftlich am Boden liegt, es wieder auf die Beine zu bringen.
Unabhängige Kandidaten auf verschiedenen Listen
Das hat Bahaa Dalal dazu veranlasst, als Kandidat bei die anstehenden Wahl anzutreten. "Ich empfinde es als meine Pflicht, mich für mein Land einzusetzen und für die Bürger stark zu machen. Wir alle leiden unter einer Wirtschafts-, Bildungs- und Gesundheitskrise", sagt er.
Gemeinsam mit anderen unabhängigen oppositionellen Mitstreitern hat er sich im östlichen Wahlbezirk Raschaya und Westbekaa aufstellen lassen. Auch Bahaa Dalal hat damals, am 17. Oktober 2019, an den Protesten gegen die Regierung teilgenommen und gehofft, dass sich politisch etwas ändert. "Wir wollen weiter auf den Pfaden dieser Oktober-Revolution laufen, die Menschenrechte und die Würde des Menschen verteidigen. Und wir wollen den Armen und Marginalisierten dieses Landes eine Stimme im Parlament verleihen."
Bahaa Dalal ist eigentlich Lehrer - und in der restlichen Zeit betreibt er Wahlkampf, geht von Tür zu Tür und trifft die Bürger auf Wahlveranstaltungen. Er ist sich sicher, dass die Menschen Veränderungen wollen und brauchen.
Eine Krise jagt die nächste
Tatsächlich ist die Bilanz der politischen Elite im Libanon katastrophal. Das Land befindet sich wegen Missmanagement und Korruption in einer verheerenden wirtschaftlichen Krise: Die Währung hat 90 Prozent ihres Wertes verloren, was zu einer Hyperinflation und einem Mangel an Treibstoff, Medikamenten und anderen wichtigen Gütern geführt hat. Strom ist daher auch kaum vorhanden, als nächstes drohen das Mobilfunknetz und das Internet zusammenzubrechen. Und weil der Libanon auch Weizen importieren muss, droht aufgrund des Krieges in der Ukraine eine Verschärfung der Hungerkrise.
"Der Staat kommt seinen Aufgaben nicht nach", sagt Anna Fleischer, Leiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut. Nicht einmal Reisepässe können derzeit mehr ausgestellt werden, weil es keine neuen leeren Dokumente gibt. Außerdem versuchen die Machthaber seit zwei Jahren mit aller Kraft zu verhindern, dass die Verantwortlichen für die größte nicht-nukleare Explosion in der Geschichte der Menschheit zur Rechenschaft gezogen werden. Der Libanon ist längst bekannt für eine Kultur der Straflosigkeit.
Alle traditionellen Parteien sind dabei - Saad Hariri nicht
Lange Zeit sind viele Beobachter davon ausgegangen, dass die Parlamentswahl abgesagt wird. Denn vor den bisher letzten Wahlen 2018 hatte das Parlament den Urnengang jahrelang vor sich hergeschoben. "Dass die Wahlen dennoch stattfinden, ist wichtig und wird als Lackmustest für die demokratischen Prozesse im Libanon gesehen", sagt Fleischer.
Insgesamt 128 Parlamentssitze sind bei den Wahlen zu vergeben. Alle traditionellen Parteien im Land treten mit ihren altbekannten Anführern an, darunter die Freie Patriotische Bewegung, Amal, die Hisbollah, die Libanesischen Kräfte und auch die Progressive Sozialistische Partei der Drusen. Doch einer wird dieses Mal nicht dabei sein, denn der ehemalige Ministerpräsident Saad Hariri hat sich aus der Politik zurückgezogen. Saad Hariri - traditionell der Chef der Sunniten im Land - hat damit seine Glaubensgemeinschaft ins Chaos gestürzt. Auch wenn im Namen der Sunniten einige Kandidaten antreten werden, wird das unweigerlich zu neuen Allianzen führen.
Um die Machtverteilung im multikonfessionellen Libanon zu garantieren, einigten sich 1943 die verschiedenen Religionsgruppen darauf, Staatsämter und Parlamentssitze nach einem religiösen Proporzsystem aufzuteilen. Der Ministerpräsident muss zum Beispiel immer ein Sunnit sein, der Staatspräsident ein Christ und der Parlamentspräsident ein schiitischer Muslim.
Wahlbeobachtung durch die EU
Bei der anstehenden Wahl stehen aber auch andere im Fokus - und zwar die Gruppen und Kandidaten, die aus dem Aufstand von 2019 hervorgegangen sind. Sie heißen zum Beispiel Khat Ahmar (Rote Linie), People's Anti-Corruption Observatory, Schamaluna (Unser Norden) und eben die Liste, auf der auch Bahaa Dalal steht. Sie nennt sich Sahlona wal Jabal (Flachland und Berge).
"Ich will, dass wir endlich den Kreis durchbrechen, der der alten politischen Elite immer wieder ihre Sitze gesichert hat. Der Libanon soll ein ziviler Rechtstaat sein - ohne Diskriminierung und Sektierertum", sagt Bahaa Dalal. Außerdem sei diese Wahl wichtig, um zu zeigen, wieviel Rückhalt die alten Parteien verloren haben, sagt Ammar Aboud. Er ist Wahlexperte und einer der Gründer der Lebanese Association for Democratic Election (LADE).
Ammar Aboud befürchtet aber auch, dass es zu Wahlmanipulation kommen kann. Denn angesichts der Krise sei es leichter geworden, sich Stimmen zu kaufen. Die Kassen der Altparteien sind voll und können sich teilweise über Unterstützung aus dem Ausland freuen. Erst kürzlich ist der Botschafter Saudi-Arabiens nach monatelangen Spannungen nach Beirut zurückgekehrt. Seine Rückkehr wird auch als Zeichen an die von Erzfeind Iran unterstützte Hisbollah gewertet.
"Ich denke, das Signal der Rückkehr des saudischen Botschafters lautet, dass man sich nicht komplett aus dem Libanon zurückzieht", sagt Anna Fleischer. Mutmaßlich soll Saudi-Arabien ihren libanesischen Verbündeten auch finanziell unter die Arme greifen.
Im Libanon existiert zwar eine Kommission zur Überwachung der Wahlen, aber diese ist, wie so vieles im Libanon, chronisch unterfinanziert. Die EU entsendet daher erneut ein Wahlbeobachter-Team. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erklärte, die EU leiste auch finanzielle und technische Hilfe zur Vorbereitung der Wahlen. Es gehe darum, demokratische Entwicklung und Reformen im Libanon zu stärken. Leiter der Mission ist der ungarische christdemokratische Europaabgeordnete György Hölvenyi, Mitglied im Unterausschuss Menschenrechte im EU-Parlament.
Geringe Aussicht auf strukturellen Wandel
Doch auch wenn im gesamten Land die Konterfeis der verschiedenen Kandidaten auf Plakaten und großen Billboards zu sehen sind, will keine wirkliche Aufbruchsstimmung aufkommen. Die Menschen seien müde, der Alltag und die Krise erschöpfe sie, sagen viele. Auch dazu beigetragen haben könnte die Tatsache, dass sich seit der Proteste im Oktober 2019 die oppositionellen Kräfte in viele verschiedene Gruppen aufgeteilt haben.
"Sie haben es nicht geschafft, gemeinsame Listen zu bilden", sagt Anna Fleischer von der Böll-Stiftung. "Daher halte ich die Wahrscheinlichkeit für eine tatsächliche strukturelle Veränderung für sehr gering."
Auslandslibanesen wählen mit
Dennoch hoffen die Libanesen, dass es möglichst viele oppositionelle Kandidaten ins Parlament schaffen. So auch Amal: "Es gibt viele verdeckte Stimmen für die Opposition von Menschen, die sich nach außen hin zum alten Regime bekennen. Es gibt viele ehemalige Nichtwähler, die dieses Jahr wählen gehen."
Und es gibt die Libanesen im Ausland, die laut Ammar Aboud überwiegend die Opposition wählen. Nach Angaben des Lebanese Diaspora Networks haben sich 244.000 Auslandslibanesen für die Wahl angemeldet, auch das Innenministerium bestätigt diese Zahl. Gut 140.000 haben bereits vergangene Woche gewählt. Insgesamt sind knapp vier Millionen Libanesen wahlberechtigt.
"Es ist eine schwierige Herausforderung, aber nichts ist unmöglich", sagt Amal Nassereddine. "Wenn wir nur ein bisschen Hoffnung schöpfen können bei diesen Wahlen, dann wird der Rest sich hoffentlich langsam ändern. Wir müssen nur geduldig sein."