Noch keine Entscheidung zu Ungarns Coronahilfen
7. Juli 2021"Wenn ich morgens neben meiner Freundin aufwache, denke ich mir, wie kann das sein, dass sie uns hassen, nur weil wir uns lieben?", fragte die deutsche Europaabgeordnete Terry Reintke in der streckenweise emotional geführten Debatte über das umstrittene neue LGBTQ-Gesetz in Ungarn. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte im Plenum erneut, das Gesetz, das die Darstellung von sexuellen Minderheiten in den Medien beschränkt, sei eine "Schande". Und die überwiegende Mehrheit der Rednerinnen und Redner im Europäischen Parlament in Straßburg stimmten ihr zu. Sie forderten die Rücknahme des Gesetzes und Strafmaßnahmen gegen die ungarische Regierung, sollte dies nicht geschehen.
Der ungarische Europa-Abgeordnete Balas Hidveghi von der Regierungspartei Fidesz sagte hingegen, es sei schwierig, "Worte zu finden für den Wahnsinn, der hier stattfindet." Die EU missachte ihrerseits die europäischen Werte, weil sie das Recht Ungarns auf eigene Gesetzgebung ignoriere. Das umstrittene Gesetz diene nur dem Schutz von Kindern vor "sexueller Propaganda". Die Rechte von Schwulen, Lesben und Transsexuellen würden in Ungarn nicht beschnitten, so Balazs Hidveghi, aber in Kindergärten und Schulen hätten sie nichts zu suchen.
"Wer glaubt, dass das Schauen von Netflix schwul macht, der hat überhaupt nichts verstanden", hielt der deutsche FDP-Parlamentarier Moritz Körner diesem Argument entgegen.
EU-Kommission will gegen Ungarn vorgehen
Die für Grundrechte zuständige EU-Kommissarin Vera Jourova sagte in Straßburg, das ungarische Gesetz sei "ganz klar diskriminierend und verstößt gegen fundamentale Werte der EU." Sie werde das nicht hinnehmen und mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, dagegen vorgehen. Wahrscheinlich wird die EU eine weitere Klage gegen Ungarn vor dem Europäischen Gerichtshof anstrengen. Das Gesetz verstoße auch gegen die Freiheit der Medien in der EU und gegen die Bestimmungen des Binnenmarktes, so Jourova. Die EU-Kommissarin wies darauf hin, dass die Auszahlung von EU-Geldern mit dem neuen Haushalt an die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit geknüpft sei. Sie werde das im Falle Ungarns sehr genau prüfen, kündigte Vera Jourova an. "Die Kommission wird alle ihre Macht nutzen."
Ungarns Antrag auf Wiederaufbauhilfen wird noch geprüft
Jourvova sagte, im Moment sei der Wiederaufbauplan, den Ungarn zur Auszahlung von 7,2 Milliarden Euro an Corona-Aufbaumitteln eingereicht habe, noch nicht zurückgewiesen. Das hatte die dpa berichtet. Der Plan werde im Moment noch geprüft. "Die deutsche Presse hat da nicht recht." Ob Ungarn die rechtsstaatlichen Vorgaben für die Auszahlung der Mittel erfülle, sei noch nicht klar, bestätigte die EU-Kommissarin. Das werde noch untersucht.
Der deutsche Abgeordnete Jörg Meuthen von der rechtspopulistischen AfD sprang Ungarn zu Seite. "Ungarn ist das Ziel eines erneuten Angriffs, weil es auf seine Souveränität pocht", meinte Meuthen. Nicht die Gesetzgebung in Ungarn, sondern die Kritik von Kommissionspräsidentin von der Leyen sei eine Schande, sagte der AfD-Politiker, der selbst unter Druck steht. Meuthens Immunität als Abgeordneter im Europäischen Parlament könnte bald aufgehoben werden, weil die Staatsanwaltschaft Berlin gegen ihn wegen mutmaßlicher illegaler Parteispenden ermittelt. Der AfD-Politiker weist die Anschuldigungen zurück.
Einige Abgeordnete trugen in der Debatte die Farben des Regenbogens in ihren Kleidungsstücken, die als Symbol der schwul-lesbischen Bewegung für Gleichberechtigung gilt. Jereon Lenaers von den niederländischen Christdemokraten forderte die EU-Institutionen auf, endlich zu handeln, und nicht nur verbale Kritik an Ungarn zu üben. Beim letzten EU-Gipfel hatte es zwar scharfe Worte gegen den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban gegeben, aber keine formalen Rats-Schlussfolgerungen.
Artikel-7-Verfahren sollen weitergehen
Die EU-Kommissarin für Grundrechte, Vera Jourova, versprach, die parallel zum aktuellen Fall laufenden Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und Polen weiter voranzutreiben. Diese Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge werden vom Ministerrat verfolgt und treten dort seit Jahren auf der Stelle. Die Verfahren drehen sich um die Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz sowie um die Einschränkung der Medien- und Wissenschaftsfreiheit. Ganz am Ende könnten sie zu Sanktionen gegen Polen und Ungarn führen. Dazu sind aber formale Abstimmungen nötig, die der Ministerrat als Vertretung der Mitgliedsstaaten bislang gescheut hat.
Die sozialdemokratische Abgeordnete Bettina Vollath aus Österreich warf der ungarischen Regierung vor, der Abbau von Grundrechten in Ungarn sei "längst systematisch und weit fortgeschritten". Das habe der Europäische Gerichtshof in mehreren Urteil festgestellt. Sie fragte, wie lange die anderen EU-Institutionen noch warten wollten, bevor sie handelten. Das Europäische Parlament hatte bereits im März die EU zu einer "Freiheitszone" für Schwule, Lesben und Transsexuelle erklärt. Das war als Antwort auf die Ausrufung von "LGBTQ-freien Zonen" in Swidnik und anderen Gemeinden in Polen vor zwei Jahren gedacht.
Neuer Mechanismus
Die grüne Fraktion im Europaparlament hatte daraufhin ein Rechtsgutachten zur Lage in Ungarn in Auftrag gegeben. Darin kommen die juristischen Gutachter zu dem Schluss, dass die EU-Kommission bereits jetzt die Streichung von Fördermitteln einleiten müsse. Die Unabhängigkeit der Justiz, die eine Voraussetzung für den Erhalt von EU-Geldern sei, sei nicht gewährleistet. Familie und Freunde von Ungarns Regierungschef Viktor Orban würden bei der Auftragsvergabe für EU-Projekte bevorzugt, heißt es in dem Gutachten, das sich auf Daten der EU-Betrugsbekämpfungsbehörde (OLAF) stützt.
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen will ein entsprechendes Verfahren gegen Ungarn erst nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs über Einsprüche Ungarns und Polens gegen den neuen "Rechtsstaats-Mechanismus" einleiten. Dieses wird für den Herbst erwartet. "Aber die Daten und Fakten werden bereits jetzt gesammelt. Nichts geht verloren", versprach von der Leyen dem Parlament.
"Wer die Grundrechte nicht versteht, versteht zumindest die Sprache des Geldes", sagte EU-Kommissarin Vera Jourova zum Schluss der Debatte. Am Ende müssten sich auch die Wählerinnen und Wähler in Polen und Ungarn fragen, ob sie solche Regierungen noch stützen wollten.