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Interview Leonardo Boff

Astrid Prange22. Juli 2013

Papst Franziskus wird die katholische Kirche verändern - davon ist Befreiungstheologe Leonardo Boff überzeugt. Die DW sprach mit ihm über den Katholizismus, die Massendemonstrationen und die Erwartungen an den Papst.

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Der Befreiungstheologe Leonardo Boff aus Brasilien. Foto: AFP.Mayela Lopez
Der Befreiungstheologe Leonardo Boff aus Brasilien.Bild: AFP/Getty Images

DW: Warum braucht das Christentum im 21. Jahrhundert noch einen Papst?

Leonardo Boff: Im Grunde genommen bräuchte man keinen Papst. Die Kirche könnte sich wie zu ihren Gründungszeiten ein Netz von Gemeinden aufbauen, die untereinander kommunizieren. Aber während des Römischen Reiches hat sie sich in eine Institution mit politischen Aufgaben verwandelt. Dies hat dazu geführt, dass die Kirche sich zu einem Machtzentrum entwickelte. Es ist bezeichnend, dass Papst Franziskus sich nach seiner Wahl weigerte, die goldene Mütze aufzusetzen. Er sagte: "Der Karneval ist vorbei, das will ich nicht!"

Wird dieser Papst den Vatikan umkrempeln?

Ich glaube, Papst Franziskus ist ein Papst der Zäsur. Das ist neu. Seine Vorgänger Johannes Paul II. und Benedikt XVI. wollten, dass die Kirche Kontinuität bewahrt. Die Figur des Papstes hat sich verändert: Franziskus hat angefangen, das Papsttum zu reformieren. Ich glaube, dass Papst Franziskus eine Dynastie von Päpsten aus der Dritten Welt gründen wird. In Europa leben nur 24 Prozent der Christenheit. 62 Prozent sind in Lateinamerika, der Rest in Asien und Afrika. Das Christentum ist heute eine Religion der Dritten Welt, die ihren Ursprung in der Ersten Welt hat. Sie hat ihre eigenen Quellen und Traditionen, Helden, Märtyrer, Propheten und Persönlichkeiten wie den Bischof von Recife Dom Hélder Câmara oder den Volksheiligen Oscar Romero. Diese Kirchen hauchen dem Christentum neues Leben ein.

Woher kommt dieser Optimismus? Die Probleme sind noch immer die gleichen: Wiederverheiratete Geschiedene sind vom Abendmahl ausgeschlossen, Homosexuelle werden diskriminiert und Frauen nicht zu Priestern oder Diakonissen geweiht...

Der Papst hat ein klares Beispiel gegeben. Als er in Rom von einem Pfarrer hörte, der einem unehelichen Kind die Taufe verweigerte, sagte er: "Es gibt keine unehelichen Töchter und Söhne, sondern nur Kinder. Die Mutter hat ein Recht darauf, dass ihr Kind getauft wird. Die Kirche muss ihre Türen für alle öffnen". Bis jetzt war es verboten, über Themen wie kirchliche Sexualmoral, Zölibat und Homosexualität zu sprechen. Theologen und Pfarrer, die sich nicht daran gehalten haben, wurden zensiert. Jetzt ist die Diskussion darüber erlaubt.

Papst Franziskus besucht die italienische Insel Lampedusa, auf der jedes Jahr Tausende von Flüchtlingen ankommen. Foto: REUTERS/Alessandro Bianchi
Papst Franziskus besucht die italienische Insel Lampedusa, auf der jedes Jahr Tausende von Flüchtlingen ankommenBild: Reuters

In Brasilien sind in den vergangenen Wochen Hunderttausende auf die Straße gegangen, um gegen korrupte Politiker und teure Fußballstadien zu demonstrieren. Was wollen sie erreichen?

Sie sind einfach generell unzufrieden mit ihrem Land, das von extremer sozialer Ungleichheit gekennzeichnet ist. 43 Prozent des nationalen Einkommens werden von nur 5000 brasilianischen Familien kontrolliert. Die Arbeiterpartei PT ist selbst an ihre Grenzen gekommen. Entweder verändert sie sich und erneuert ihr Verhältnis zu den sozialen Bewegungen, oder sie wird sich zu einer Partei wie jede andere auch entwickeln, die nach Macht strebt und sich korrumpieren lässt.

Die brasilianische Mittelschicht scheint von den sozialen Programmen der Regierung nicht begeistert zu sein. Fühlt sie sich vernachlässigt?

Während der Präsidentschaft von Luiz Inácio Lula da Silva wurden die Reichen reicher und die Armen entkamen der Armut. Alle haben gewonnen. Die Arbeiterpartei PT hat eine Umverteilung vorgenommen. Umverteilung bedeutet: Vermögende belasten und mit den Einnahmen ärmere Bevölkerungsschichten unterstützen. Nur wurde dieses Prinzip nicht auf große Vermögen angewendet. Die Regierung hat das Geld von der Mittelschicht genommen, die Einkommenseinbußen hinnehmen musste.

Werden die brasilianischen Politiker beim Weltjugendtag die Worte des Papstes freundlich zur Kenntnis nehmen und danach wieder vergessen?

Ich glaube, die Art und Weise des Papstes ist sehr wichtig für Lateinamerika, weil er die Armen und die soziale Gerechtigkeit in den Vordergrund stellt. Dies wird die neuen Demokratien stärken, die im Widerstand gegen die Militärdiktaturen entstanden sind und eine erfolgreiche Sozialpolitik betreiben. Deswegen hat der Papst eine wichtige politische Funktion. Und der Papst bewegt die Menschen in Massen. Es gibt heute keinen einzigen Politiker - noch nicht einmal Obama -, der über eine Million Menschen zusammenbringen kann.

Aber die katholische Kirche hat doch weltweit an Einfluss verloren, auch in Lateinamerika.

Als Institution befindet sich die katholische Kirche in Brasilien in einer Krise. Gemessen an der Zahl der Katholiken müsste sie 100.000 Pfarrer haben, es gibt aber nur 17.000. In diese institutionelle Leere sind die Evangelikalen und Pfingstgemeinden eingedrungen. Und weil das Volk religiös ist, folgt es demjenigen, der von Gott spricht. Zu Gott führen schließlich viele Wege. Für die Taufe, Hochzeit und Beerdigung ist die katholische Kirche zuständig, für die Welt im Jenseits der Spiritismus und für Angelegenheit von Glück und Liebe, gehen viele zu afro-brasilianischen Macumba-Kulten. Brasilien ist ein religiöser Supermarkt, in dem sich jeder sein Produkt aussucht.

Das Interview führte Astrid Prange.

Leonardo Boff (74) ist ein brasilianischer Befreiungstheologe und Autor, der sich für die Rechte der Armen und Benachteiligten einsetzt. Immer wieder kritisierte der Franziskaner die Führung der katholischen Kirche. Der Vatikan erteilte ihm deshalb 1992 ein Lehrverbot. Seitdem lässt Boff seine kirchlichen Funktionen ruhen und arbeitet als Professor für Theologie, Ethik und Philosophie an Universitäten in der ganzen Welt.