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Leichtathletik: Die Ursachen des deutschen WM-Debakels

Tobias Oelmaier
28. August 2023

Erstmals bleibt Deutschland in Budapest bei einer Leichtathletik-Weltmeisterschaft komplett ohne Medaillen. Verletzungen und Absagen sind nur ein Grund, offenbar ist die gesamte Gesellschaft nicht mehr auf Erfolgskurs.

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Speerwerfer Julian Weber hält sich enttäuscht beide Hände vors Gesicht
Die letzte Hoffnung hat sich nicht erfüllt: Julian Weber wird beim Speerwurf in Budapest nur Vierter Bild: ALINA SMUTKO/REUTERS

Noch nie in der 40-jährigen Geschichte der Leichtathletik-Weltmeisterschaften war Deutschland so schlecht wie diesmal. In Budapest holten die Athletinnen und Athleten des Deutschen Leichtathletikverbandes (DLV) keine einzige Medaille. Und das, obwohl aus bekannten Gründen Russland als sonst zuverlässig erfolgreiche Nation nicht dabei war. "Wir wissen, dass es dieses Jahr nicht besonders gut gelaufen ist", kommentierte DLV-Präsident Jürgen Kessing in der ARD das Abschneiden, "da sind wir nicht zufrieden."

Auch wenn man dem Verband zugute halten muss, dass einige Leistungsträger wie Weitspringern Malaika Mihambo, Hindernisläuferin Gesa Krause, Stabhochspringer Bo Kanda Lita Baehre oder Langstreckenläuferin Konstanze Klosterhalfen in Budapest verletzungsbedingt oder wegen Baby-Pause fehlten.

Niedergang hat sich abgezeichnet

Ingo Froböse, Professor an der Deutschen Sporthochschule in Köln und selbst Anfang der 1980er-Jahre einer der besten deutschen Sprinter über 100 und 200 Meter, beschreibt im Interview mit der DW, dass ihm beim Verfolgen der Wettbewerbe in Budapest vor dem Fernseher regelrecht die Tränen kamen. "Das ist ein langwieriger Prozess dessen Ergebnis wir heute auf dem Teller haben", sagt er. Schon bei den letzten Titelkämpfen im Juli 2022 in Eugene waren nur zwei Podestplätze herausgesprungen.

Sportwisssenschaftler Ingo Froböse
Sportwisssenschaftler Ingo Froböse fordert den Austausch der sportlichen Leitung beim DLVBild: Christoph Hardt/ Panama Pictures/picture alliance

Die Ursachen liegen Froböses Meinung nach in der nachlassenden Wertigkeit der Leichtathletik insgesamt. "In den Medien sehen wir sie kaum noch, aber auch in den Köpfen der Menschen findet sie kaum noch statt. Andere Sportarten, die es verstanden haben, sich attraktiver zu präsentieren, sind da in die Bresche gesprungen." Außerdem habe man in Deutschland andere, marktwirtschaftlich orientierte Systeme bekommen. Die Struktur im Leistungssport sei nicht mehr dieselbe: "Wir haben die Heimtrainer verloren und auf die Zentralisierung, auf die Olympiastützpunkte gesetzt. Das ist für mich eines der größten Probleme", so Froböse.

Tiefe Einschnitte sollen Besserung bringen

Jörg Bügner ist seit März dieses Jahres Sportdirektor beim DLV. Er bittet im ARD-Interview um Geduld. Man habe kürzlich ein sogenanntes "Topteam" und "Topteam Future" auf die Beine gestellt, um die Athleten zielgenauer und professioneller auf ihrem Weg zu unterstützen. Auch im Bereich der wissenschaftlichen Unterstützungsleistungen und im medizinischen Support habe man wesentliche Schritte nach vorne gemacht. Allerdings bräuchten solch tiefe Einschnitte ins System eine gewisse Wirkzeit: "Wir reden über Zyklen von acht bis zwölf Jahren", so Bügner.

Deutschlands Sprinter Joshua Hartmann schaut enttäuscht
Einer der Enttäuschten: Sprinter Joshua Hartmann scheitert über 200 Meter im Vorlauf und vermasselt in der Staffel den WechselBild: Sven Beyrich/SPPATP photo agencypicture alliance

"Das ist in die Augen gestreuter Sand", entgegnet Ingo Froböse gegenüber der DW. "Wir brauchen dringend neue Gesichter in der hauptamtlichen Spitze", fordert er. "Die übergeordnete Bundestrainerin Anett Stein hat es nicht geschafft, die Trainer zu begeistern und muss ausgewechselt werden und das gleiche gilt auch für den Generaldirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbandes [Idriss Gonschinska, Anm.d.Red]."

Dem Nachwuchs fehlt der Biss

Steffi Nerius hat 2004 bei den Olympischen Spielen in Athen Silber im Speerwerfen gewonnen, 2006 wurde sie Europameisterin, 2009 Weltmeisterin. Kurz darauf beendete sie ihre Karriere und startete eine Laufbahn als Trainerin. Allerdings begann, so sagt Nerius heute gegenüber der DW, der sportliche Abstieg der deutschen Leichtathletik schon zu ihrer aktiven Zeit. Sie bedauert, dass man es in den vergangenen zehn Jahren nicht geschafft hat, talentierte Sportlerinnen und Sportler bis ganz nach oben hin durchzubringen.

"Ich glaube", sagt Nerius, "dass sich unsere Gesellschaft gewandelt hat. Wir schaffen Bundesjugendspiele ab, erste, zweite, dritte Plätze werden abgeschafft, es soll keinen Schnellsten und keinen Langsamsten geben", so die heutige Trainerin im Parasport beim TSV Bayer 04 Leverkusen. "Da müssen wir uns eigentlich nicht wundern, dann können wir auch die Medaillen bei den Weltmeisterschaften abschaffen." Auch die Elterngeneration habe sich geändert. Die Kinder müssten sich nichts mehr erkämpfen, wollten nicht mehr besser werden.

Steffi Nerius beim Speerwerfen bei der Leichtathletik-WM 2009 in Berlin
Goldener Karriereabschluss: Steffi Nerius gewinnt 2009 bei der WM in Berlin Gold mit dem SpeerBild: David J. Phillip/AP Photo/picture alliance

Ingo Froböse bestätigt das: "Uns fehlt der Biss, uns fehlt das Wollen. Eine langwierige, sehr langfristig orientierte Lebensweise ist Voraussetzung dafür, irgendwann mal Leistung zu erbringen. Das ist in unserer Welt heute nicht mehr so gewollt. Wir wollen schnelle Erfolge, wir wollen schnell zu Ergebnissen kommen, wir wollen ganz schnell spüren, dass der return of invest sofort da ist. Und das ist in der Leichtathletik leider nicht der Fall, weil es eben doch viel Arbeit benötigt, um in die Weltspitze zu kommen."

So klingen die Worte von Verbandspräsident Jürgen Kessing schon fast träumerisch: "Wir haben uns zum Ziel gesetzt, bis 2028 in Los Angeles wieder unter den Top-Fünf-Leichtathletik-Nationen zu sein". Bei der WM in Budapest hätte man dafür mindestens drei WM-Titel gewinnen müssen.