Leben unter Beschuss in Gaza
17. Juli 2014Raed Athamnah erzählt, er sei gerade auf dem Weg, ein norwegisches Fernsehteam zu treffen. Als Stringer hilft er Journalisten aus aller Welt, an Informationen im Gazastreifen zu kommen. Heute seien besonders viele Reporter in den Gazastreifen gekommen, denn die Hamas und Israel konnten sich vorerst auf einen Waffenstillstand einigen. Aber sie sind auch gekommen, um zu sehen, wo am Mittwoch (16.07.2014) vor den Augen zahlreicher Journalisten vier Kinder der Familie Bakr beim Spielen am Strand durch einen Raketenangriff getötet wurden. Mittlerweile wurden nach Angaben von UN-OCHA, dem UN-Koordinierungsbüro für humanitäre Angelegenheiten, 214 Menschen in Gaza getötet und fast 1700 verletzt.
Raed Athamnah stammt aus Beit Hanoun, einer kleinen Stadt im Norden des Gazastreifens - der Region, die besonders im Visier der israelischen Angriffe steht. Fast täglich werden dort die Bewohner vor Luftangriffen gewarnt. Mit Flugblättern oder über das Radioprogramm legt man ihnen nahe, ihre Häuser zu verlassen. Raed hat das noch nie getan. Er ist nie gegangen, erzählt er am Telefon. "Wo sollte ich denn auch hingehen mit meiner Familie? Hier ist alles so eng besiedelt. Egal wo man ist, es ist überall gefährlich. In jedem Viertel wohnt jemand, der etwas mit der Hamas zu tun hat. Aber die meisten, die bis jetzt getötet wurden, hatten nichts mit der Hamas zu tun."
Die Familie bleibt meistens daheim
Es ist das erste Mal seit Tagen, dass sich auch Athamnah wieder auf die Straße traut. "Die Straßen sind wieder etwas voller", sagt er. In diesen Stunden gehe es nicht mehr nur um Gewalt und Tod, er sei froh, dass wieder ein bisschen Leben in der Stadt herrsche. "Die meisten versorgen sich mit Lebensmitteln. Wir wissen ja nicht, ob die Kämpfe nicht doch weitergehen", sagt Raed.
Die vergangenen Tage hat er gemeinsam mit seiner Frau und seinen acht Kindern überwiegend im Inneren der Wohnung verbracht, weit weg von den Fenstern. "Bei jeder Rakete, jedem Überflug, wackeln die Wände unseres Hauses", erzählt er. Man habe die Nacht zum Tag gemacht, denn besonders nachts herrsche nahezu Raketenhagel. Er habe schon oft Krieg miterlebt in Gaza, aber dieses Mal seien die Angriffe besonders intensiv.
Mehr als 1600 Häuser wurden mittlerweile in Gaza zerstört. Über 9000 Menschen sind dadurch obdachlos geworden. Vier Ambulanzen und sechs Krankenhäuser wurden durch israelische Luftangriffe nach Angaben der Organisationen "Handicap International" und "Ärzte der Welt" ebenfalls beschädigt - ebenso ein Rehabilitationszentrum für Menschen mit Behinderung. Es fehlt an Medikamenten und medizinischem Personal.
Es fehlt am Nötigsten
Athamnah kümmert sich nicht nur um seinen erkrankten Vater, sondern versorgt die gesamte Großfamilie. Schätzungsweise 45 Familienmitglieder sind auf sein Einkommen angewiesen. "Es gibt viele Anfragen von verschiedenen Medien, aber es war oft einfach zu gefährlich, um aus dem Haus zu gehen."
Seit zwei Tagen hat Familie Athamnah schon kein Wasser mehr. Zum einen, bestätigt der Sprecher des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) Adnan Abu Hasna, seien die Wasserpumpen bombardiert worden, zum anderen gebe es nur fünf bis sechs Stunden am Tag Strom. Raed Athamnah hat nur noch wenig Akku, erzählt er am Telefon. Es gebe Zeiten, da seien er oder seine Großfamilie telefonisch gar nicht erreichbar. Dann machten sich alle Sorgen, dass etwas passiert sein könnte. Denn die Familie hat schon Schlimmes erlebt. Bei einem Luftangriff der israelischen Armee 2006 wurden 18 Mitglieder der Familie mit einem Schlag ausgelöscht, sein Haus komplett zerstört. "Ich weiß nicht, wo wir die Kraft hergenommen haben, uns ein neues zu Hause aufzubauen, aber auch das wurde bei der Militäroffensive 2008/2009 zerbombt."
Mittlerweile lebt der 43-Jährige schon in seinem dritten Haus. Immer noch in Beit Hanoun, aber etwas weiter südlich, um nicht mehr ganz so nah an der Grenze zu Israel zu wohnen. Die Situation sei schon schwierig genug.
Zukunft ist ungewiss
Wenn es Strom gibt, verfolge man natürlich auch das TV-Programm: "Hier gibt es nur Nachrichten über Tod und Raketen. Wie soll ich das meinen Kindern erklären?"
Er und seine Frau spielten daher viel mit den Kindern, besonders mit den kleineren. "Wir bemühen uns, sie abzulenken. Aber natürlich fragen sie mich immer wieder, warum das alles hier passiert. Was soll ich meinen Kindern denn darauf antworten?" Mittlerweile würden sie unter Albträumen leiden. "Ich versuche ihnen immer wieder zu erklären, dass Gewalt nie die Lösung für Probleme ist. Aber es ist so schwer, ihnen das glaubhaft zu vermitteln, wenn wir immer wieder vor der gleichen Situation stehen." Selbst wenn die Kampfhandlungen aufhören, so sagt er, seien doch die Grundprobleme des Gazastreifens nicht gelöst. Denn seit 2007, seit der Machtübernahme der Hamas, leiden die 1,5 Millionen Einwohner des ohnehin übervölkerten und unterversorgten Gazastreifens unter den Folgen der israelischen Blockade.
Seit fast 20 Jahren arbeitet Raed Athamnah jetzt mit internationalen Medien zusammen. Genauso lange haben weder er noch seine Frau den Gazastreifen verlassen dürfen. "Wir leben hier abgeriegelt von der Außenwelt. Mein einziger Bezug nach draußen sind die ausländischen Journalisten, die ich hier treffe."
Etwas tröste ihn allerdings: "Durch meine Arbeit kann ich wenigstens dazu beitragen, dass die Welt sieht, wie wir hier leben, was es bedeutet, eingesperrt zu sein und immer wieder nach jedem Krieg bei Null anfangen zu müssen." Gerne würde er mal verreisen, erleben wie es ist, sich frei bewegen zu dürfen. Aber er würde immer wieder nach Gaza zurückkommen: "Hier ist mein Zuhause, das ist meine Heimat."