Ein globales Dorf
5. Februar 2013Die Sommer an der indischen Ostküste sind heiß und staubig, das Thermometer klettert nicht selten auf bis zu 40 Grad Celsius und fällt kaum unter 20 Grad. Der rote Wüstensand ist von kleinen Straßen durchzogen, die verschiedene Siedlungen miteinander verbinden. Sie sind ein Experiment, das vor knapp fünfzig Jahren begonnen hat: Auroville, das "globale Dorf". Damals gab es hier nicht viel mehr als staubigen, roten Sand. Heute spenden ausladende Banyan-Bäume, die Bengalische Feige, und Cashew-Bäume Schatten für die etwa 2.000 Einwohner.
In Auroville gleicht kein Haus dem anderen. Die Siedlungen sind so unterschiedlich wie die Menschen die hier leben – Architekten, Umweltaktivisten, Aussteiger. Neben einfachen Reetdach- oder Finnhütten stehen Häuser mit Dächern aus Tetrapak, wieder andere sehen aus wie Schiffe mit gesetzten Segeln, andere wie indische Tempel. Einige Bauherren haben einen starken Hang zur Bauhaus-Architektur.
Die Entstehung von Auroville geht auf eine Idee der Französin Mira Alfassa zurück, die eine Stadt des Friedens gründen wollte, einen Ort, an dem Menschen aus allen Ländern der Welt friedlich miteinander leben sollten. Die Idee wurde auch von der UNESCO Ende 1966 unterstützt. Benannt ist ihr "globales Dorf" nach Sri Aurobindo, einem indischen Philosophen und Alfassas Yoga-Lehrer.
Über eine Einladung, die an alle ausländischen Botschaften in Delhi und an alle Regierungen der indischen Bundesstaaten geschickt wurde, seien Vertreter aus vielen unterschiedlichen Staaten zur Eröffnungs-Zeremonie gekommen, erinnert sich Gilles Guigan, der auch heute noch in Auroville lebt. 5000 Menschen kamen damals in die neue Stadt im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu, viele von ihnen blieben.
Diese ersten Siedler begannen die Bäume zu pflanzen, aus denen schließlich eines der weltweit ambitioniertesten Aufforstungsprojekte wurde, das unter anderem von der indischen Regierung von 1982 bis 1987 mit rund 100.000 US-Dollar finanziell unterstützt wurde. Heute wachsen hier zwei Millionen Bäume.
Um die Einheit mit der Natur zu unterstreichen, plante Architekt Roger Anger ursprünglich die “Stadt der Zukunft” ohne Autos. Tatsächlich fahren immer noch wenige Autos durch das Waldgebiet, aber ständig dringt Motorenlärm von den zahlreichen Motorrädern durch die Luft. In den vergangenen Jahren sind mehrere Elektrofahrzeuge hinzugekommen, Busse, ein paar Kleinwagen.
Lalit Bhati lebt seit 14 Jahren in Auroville. Der Stadtplaner hatte während des Studiums von der kleinen Stadt in der Wüste gehört. Zum ersten Mal besuchte er sie im Rahmen seines ersten Jobs nach dem Studium, um das Wirtschaftssystem des Ortes kennenzulernen. "Ich habe mit sehr vielen Menschen gesprochen und habe sie als sehr inspirierend empfunden." Ihm gefielen die Ideen von Sri Aurobindo und Mira Alfassa, eine "bewusste" Gemeinschaft zu gestalten, in der die Menschen sich in allen Bereichen des Lebens als Lernende und Lehrende verstehen. "Ich habe immer nach meiner Bestimmung im Leben gesucht – und war mir sicher, dass die höher sei als nur mein eigenes Leben betreffend." Für ihn war es eine große Herausforderung, an der Weiterentwicklung des stadtplanerischen Konzepts Aurovilles mitzuarbeiten und gleichzeitig selbst die Dynamiken kollektiven gemeinschaftlichen Lebens zu erfahren.
Als der Niederländer Jos van den Akker 2001 nach Auroville kam, galt der Ort als Vorreiter für den Einsatz von Solarenergie und umweltgerechtes Bauen. Er war damals selbst in der Branche aktiv und es schien ihm logisch, hier zu bleiben. Allerdings war es nicht nur die Solarenergie, die ihn reizte. Das Leben in der Gemeinschaft, Dinge zu teilen und im Austausch zu stehen mit den Menschen, mit denen man zusammen wohnt, gaben den Ausschlag. "Vielleicht liegt es auch daran, dass ich Single bin – ich habe keine Familie, und daher lebe ich gerne in anderen Gemeinschaften."
Einfach ist das nicht immer, denn alle Einwohner müssen Entscheidungen gemeinsam im Konsens in einer Vollversammlung treffen. Einen Präsidenten oder Abgeordnete gibt es nicht. "Wenn etwas entschieden werden soll, müssen alle zustimmen. Das ist einfach nicht realistisch. Irgendjemand ist immer dagegen und blockiert das Ergebnis." Das sei ineffektiv und letztlich werde kaum etwas entschieden, sagt van den Akker.
"Ja, die Entscheidungsprozesse sind langsam", stimmt Bhati zu. "Das kann manchmal ganz schön frustrierend sein." Immerhin wurden vor sechs oder sieben Jahren Nachbarschaftsversammlungen gegründet, die sich um kleinere Probleme wie Streitigkeiten zwischen den Bewohnern kümmern. "Auch Utopia ist nicht frei von Problemen", sagt Bhati. Auroville sei schließlich ein "lebendes Labor", wie es Alfassas ausgedrückt hat, in dem die Menschen genauso der Evolution ausgesetzt seien wie in der restlichen Welt. Dieser Prozess sei noch lange nicht abgeschlossen und werde es möglicherweise auch niemals sein.
"Auroville ist einzigartig", sagt die Politikwissenschaftlerin Karen Litfin von der University of Washington, die gerade an einem Buch über sogenannte Ökodörfer schreibt. Mehrere tausend gebe es davon auf der ganzen Welt. Doch Auroville sei mehr als ein Ökodorf, obwohl es zum 'Global Ecovillage Network' gehöre. "Auroville ist vor allem eine spirituelle Gemeinschaft und die Umweltaktivitäten sind Resultat der Lehren Sri Aurobindos."
Doch ein Utopia – im Sinne eines perfekten Ortes – sei auch Auroville nicht, ergänzt Litfin. "Aber es strebt danach, der beste Orte zu sein, den die Menschheit hervorbringen kann – und Menschen sind eben nicht perfekt."