Biografie: Marcel Reich-Ranicki
2. Juni 2015Keine andere Literatursendung hat das deutsche Fernsehen so geprägt wie "Das literarische Quartett". Marcel Reich-Ranicki hatte die populäre Talkrunde einst aus der Taufe gehoben. Sie ist bis heute mit seinem Namen verbunden.
Reich-Ranicki lockte damals auch Menschen in die Buchläden, die sich bis dato kaum für Literatur interessiert hatten. Das ist und bleibt sein Verdienst. Nicht zuletzt durch das TV-Format wurde Reich-Ranicki zur öffentlichen Person mit einem Bekanntheitsgrad, von dem andere Kolleginnen und Kollegen nur träumen konnten. Die bürgerliche deutsche Öffentlichkeit hing damals geradezu an seinen Lippen, kaufte seine Buchempfehlungen.
Turbulente Jahre am Lebensende
Reich-Ranicki hatte zuvor schon jahrelang die Literaturredaktion der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" geleitet und dort auch eine Handvoll jüngerer Kollegen um sich geschart. Zu ihnen gehörte auch der 1955 in Leipzig geborene Uwe Wittstock, der seinem literarischen Ziehvater vor zehn Jahren eine erste Biografie gewidmet hat. Danach hatte der "Literaturpapst", wie viele ihn irgendwann nur noch nannten, noch einige turbulente Jahre vor sich. Er starb im Jahr 2013.
Wittstock hat seine Biografie gründlich überarbeitet und um die letzten Lebensjahre des Kritikers ergänzt. Und es ist ja auch noch einiges passiert: Seine Autobiografie wurde verfilmt. Reich-Ranicki inszenierte einen veritablen TV-Skandal, als er sich vor laufenden Kameras weigerte, den Deutschen Fernsehpreis anzunehmen. Er erhielt zahlreiche Ehrungen und seine geliebte Frau Teofila, mit der er viele Jahrzehnte verheiratet war, starb. Und so ist die Neuauflage der Reich-Ranicki-Biografie von Uwe Wittstock tatsächlich ein (fast) neues Buch geworden.
Von Freundschaften und Feindschaften
Es ist wohl bezeichnend für Reich-Ranicki, dass sich die ihm gewidmete Biografie über weite Strecken um Freundschaften und Feindschaften dreht. Marcel Reich-Ranicki war ein Polarisierer von höchsten Graden. Er verstand es wie kein anderer zuzuspitzen, Autoren und Bücher zu fördern oder zu verurteilen. Dass gerade auf dem Feld der Literatur, also auf einem Gebiet, das Geist und Wissen, Philosophie und sensible Zwischentöne vereint, immer viel Unmut herrschte über Reich-Ranickis oft harsche Töne, konnte nicht ausbleiben. Wittstock beschreibt die zahlreichen Auseinandersetzungen mit prominenten Autoren ausführlich.
Im detaillierten Rückblick wird es geradezu mit erschreckender Intensität spürbar, worin ein Geheimnis des Reich-Ranickischen Erfolgs begründet lag: Wenn der Kritiker seine Meinung formulierte, geschah das meistens mit dem Anspruch allergrößter Ausschließlichkeit. Jahre später konnte Reich-Ranicki geradezu das Gegenteil von dem behaupten, was er einst postulierte. Doch das ging meist unter. An frühere Aussagen erinnerten ihn dann nur noch Germanistik-Professoren oder ein paar weniger prominente Kollegen.
Frühes Plädoyer für gesellschaftlich engagierte Literatur
Ein Beispiel: In Zeiten des "Literarischen Quartetts" scheute Marcel Reich-Ranicki sich nicht davor, Romane vor großem Publikum zu verdammen, die politische oder gesellschaftliche Themen anschnitten. Das interessiere ihn nicht, das sei keine wichtige Literatur. Ihn interessiere nur die menschliche Psyche, Literatur über die Beziehung von Mann und Frau, über Familienbande.
Reich-Ranicki hatte Jahre zuvor lauthals das Gegenteil postuliert: "Ich bin ein Anhänger einer engagierten Literatur. Ich glaube, dass Schriftsteller sich nicht damit begnügen dürfen, das Leben mit reizvollen Arabesken zu schmücken und allerlei Ornamente beizusteuern. Ich glaube, dass es ihre Hauptaufgabe ist, bewusst in eine bestimmte Richtung zu wirken, also auf ihre Zeitgenossen Einfluss auszuüben."
Reich-Ranicki in seiner ganzen Charaktervielfalt
Nun hat jeder das Recht, seine Meinung zu ändern. Doch Marcel Reich-Ranicki hat mit diesen oft krass formulierten Urteilen auch Viele verschreckt. Sein Unterhaltungswert wurde für einen hohen Preis erkauft. Es ist das Verdienst Wittstocks, beide Seiten des Kritikers herausgearbeitet zu haben. Das Buch ist gerade deshalb lesenswert, weil es ausgewogen ist. Insofern zeigt sich Wittstock hier nicht als nacheifernder Schüler Reich-Ranickis.
Im Schlussviertel des Buches, welches die letzten Lebensjahre beschreibt, dürfte der ein oder andere Gegner Marcel Reich-Ranickis mit dem streitbaren Kritiker zumindest ein wenig versöhnt werden. Wittstock versucht dort zu ergründen, warum Reich-Ranicki oft so unerbittlich agierte. Unter der harten Schale steckte ein weicher Kern, so Wittstock - wohl auch, weil er sich nach den Erfahrungen während des Holocaust geschworen hatte, nie wieder schwach zu sein, sich nicht unterdrücken zu lassen. Der Biograf hat es geschafft, Marcel Reich-Ranicki in seiner ganzen Charaktervielfalt zu erfassen.
Uwe Wittstock: Marcel Reich-Ranicki. Die Biografie, Blessing Verlag 2015, 430 Seiten, ISBN 987-3-89667-543-9.