Lateinamerika: Antisemitismus im Netz
18. Juli 2019Am 18. Juli jährt sich zum 25. Mal der Bombenanschlag auf die Zentrale der jüdischen Gemeinde in Buenos Aires (AMIA). Bei der Explosion eines mit Sprengstoff beladenen Lieferwagens wurden 87 Menschen getötet und über 100 verletzt. Es war der größte Anschlag in der Geschichte Argentiniens. Die Hintergründe für den Anschlag wurden nie komplett aufgeklärt. Es dauerte fast 21 Jahre, bis Argentiniens Parlament eine Entschädigung für Verletzte und Angehörige beschloss.
Der Jahrestag hat die Debatte über Intoleranz, Diskriminierung und Antisemitismus in Lateinamerika wiederbelebt. "In Lateinamerika gibt es keinen physisch gewalttätigen Antisemitismus, der sich, wie in anderen Orten der Welt, in terroristischen Anschlägen manifestiert", sagt Ariel Seidler, Programmleiter der lateinamerikanischen Sektion des Jüdischen Weltkongresses, im Gespräch mit DW. "Es gibt antisemitische Vorfälle, aber im Allgemeinen können jüdische Gemeinschaften ihre Religion frei ausleben", fügt er hinzu.
Nahost-Konflikt und Antisemitismus
Ariel Gelblung, Vertreter des Simon Wiesenthal Center in Lateinamerika, kann diese Aussage bestätigen: "Vorurteile und Hassbotschaften gibt es überall, auch in Lateinamerika. Aber im Allgemeinen ist Lateinamerika keine antisemitisch geprägte Region." Weit verbreitet sei aber eine Gleichsetzung der jüdischen Gemeinde mit dem Staat Israel. Wenn es zu verschärften Konflikten im Nahen Osten komme, nehme der Antisemitismus auch in anderen Teilen der Welt zu. "Wir sind jedoch weit davon entfernt, solche Dinge zu erleben, wie in Europa oder den Vereinigten Staaten", sagt Gelblung.
Laut dem letzten Antisemitismus-Index der US-amerikanischen Organisation Anti-Defamation League (ADL) von hatten 2015 19 Prozent der erwachsenen Bevölkerung auf dem amerikanischen Kontinent eine antisemitische Einstellung. Der Wert ist niedriger als in anderen Regionen. Zum Vergleich: In Westeuropa lag er 2015 bei 24 Prozent, in Osteuropa bei 34 Prozent und im Nahen Osten und Nordafrika bei 74 Prozent.
Nach Seidlers Ansicht ist Antisemitismus in Ländern wie Paraguay, Kuba und Guatemala kaum verbreitet, ebenso in Argentinien, dem Land mit dem größten jüdischen Bevölkerungsanteil von rund 200.000 Menschen: "Dort wird das Zusammenleben und der interreligiöse Dialog gefördert", sagt er. Die Menschen akzeptierten sich, im positiven Sinne.
Spannungen in Chile und Venezuela
Zwei Länder stechen dennoch negativ hervor - Chile und Venezuela. "In Chile sind die Spannungen vor allem mit dem Konflikt im Nahen Osten verbunden und führen zu antisemitischen Äußerungen", sagt Seidler. Das mag auch daran liegen, dass es dort laut Gelblung die größte palästinensische Gemeinde außerhalb der arabischen Welt gibt. Sie zählt etwa 400.000 Menschen. Die jüdische Gemeinde zählt in Chile rund 15.000 Mitglieder. In Chile gibt es bei vielen Bürgern eine Identifikation mit dem Wunsch der Palästinenser nach einem eigenen Staat.
Der Vertreter des Simon Wiesenthal Center erklärt, dass Kritik an der Politik einer israelischen Regierung nicht zur Diskriminierung von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde führen dürfe. Ein jüdischer Junge, der eine Universität besuche, dürfe nicht von seinen verantwortlich gemacht werden für die Dinge, die in anderen Teilen der Welt passierten, sagt er.
In Venezuela "gab es während der Regierung von Hugo Chávez einen von der Politik propagierten Antisemitismus, der die jüdische Gemeinde in weniger als 20 Jahren von 20.000 Mitgliedern auf unter 2.000 schmelzen ließ", sagt Gelblung. Er berichtet zudem von Angriffen auf Synagogen, Enteignungen, Aggressionen und die Behandlung von Juden als Fremde im Land. Die Stigmatisierung als Ausländer spiele eine wichtige Rolle bei der Ausgrenzung von Minderheiten, sagt Gelblung.
Antisemitismus im Internet
Auch wenn das interreligiöse Zusammenleben in weiten Teilen Lateinamerikas gut funktioniert: "Im Internet verbreitet sich Antisemitismus leichter", warnt Ariel Seidler. Im Rahmen seiner Arbeit für den Jüdischen Weltkongress analysiert Seidler antisemitische Äußerungen im Netz. Im Gegensatz zur Offline-Welt sei hier ein quantitativer wie auch qualitativer Anstieg solcher Äußerungen zu verzeichnen. "Der extremste und konkreteste Fall ist der von David Fremd, der 2016 in Uruguay von einem Islamisten ermordet wurde. Auf dessen Computer wurde antisemitisches Material aus dem Internet gefunden", erzählt Seidler.
Beide von der DW befragten Experten betonen die Notwendigkeit einer konsequenten Strafverfolgung in solchen Fällen. Es sei bezeichnend, so Gelblung, dass der größte Anschlag in Argentinien von 1994 bis heute weitgehend unaufgeklärt blieb. "In den Köpfen vieler Menschen gibt es immer noch die Vorstellung, dass es sich dabei um einen Angriff auf die jüdische Gemeinde, aber nicht auf Argentinien oder argentinische Bürger gehandelt hat. Solange weiterhin so gedacht wird, ist kaum zu erwarten, dass die Umstände jemals komplett aufgeklärt werden", sagt Gelblung.