Friedenspreis für Jaron Lanier
12. Oktober 2014Jaron Lanier fordert eine neue Art von Humanismus. Einen Humanismus, der zwar wie früher an den Menschen glaubt, aber künstliche Intelligenz explizit ablehnt - und anerkennt, "dass Menschen etwas Besonderes sind. Nämlich, dass Menschen mehr sind als Maschinen und Algorithmen."
Loyaler Oppositioneller
An diesem Sonntag (12. Oktober 2014) wurde der us-amerikanische Informatiker, Musiker und Schriftsteller für seine kritische Auseinandersetzung mit den Phänomenen des digitalen Zeitalters in der Frankfurter Paulskirche mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Kaum jemand habe die Gefahren und Risiken der Digitalisierung grundsätzlicher benannt als Jaron Lanier, sagte Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments, in seiner engagierten Laudatio. Laniers Kritik sei nicht kulturpessimistisch, schon gar nicht technologiefeindlich, "er mahnt aus der Position eines kenntnisreichen, zur Sache selbst aber loyalen Oppositionellen." Dadurch seien seine Überlegungen, die er in Büchern, Artikeln, Vorträgen und Interviews vorgelegt hat, "besonders erhellend." Und deshalb werde er zu Recht mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Jaron Lanier, 1960 als Kind zweier Holocaust-Überlebender in New York geboren, gilt als Pionier der digitalen Welt. Bereits als Vierzehnjähriger lernte er das Programmieren, 1983 entwickelte er sein erstes Computerspiel. Er hat für Atari gearbeitet, virtuelle Simulationshandschuhe und Kameras konstruiert, 3D-Grafiken für Kinofilme und den ersten Avatar erschaffen. Er trieb die Entwicklung internetbasierter Netzwerke voran, lehrt heute an der Berkeley University in Kalifornien und arbeitet als Forscher für Microsoft Research. Für seine Erfindungen und Entwicklungen wurde er mit zwei Ehrendoktortiteln ausgezeichnet. Sein neuestes Buch "Wem gehört die Zukunft?" zählt ohne Zweifel zu den wichtigsten internetkritischen Veröffentlichungen der letzten Jahre.
Schöne, neue Welt
Jaron Lanier beschreibe eindrücklich, so Martin Schulz, "wie bei manchem im Silicon Valley der Glaube an eine smarte Internet-Welt immer mehr zu einer Ideologie, schließlich sogar zu einer neuen Religion wird", in der uns das Netz viele Entscheidungen abnimmt, rund um die Uhr für uns sorgt und sich sogar um unsere sozialen Beziehungen kümmert. Es werde zu einer fürsorglichen Mutter, zum wachsamen und strengen Vater. "Willkommen in der schönen, neuen Welt!"
Die immer wieder mit Beifall bedachte Dankesrede, die der 54-jährige amerikanische Vordenker vor rund 1000 Gästen in der Frankfurter Paulskirche gehalten hat, war dann auch eine aufrüttelnde, in Teilen emotionale Mahnung. Wir lebten, so Lanier, "in einer verwirrenden Zeit“" und vieles deute darauf hin, dass wir, wenn wir die Augen weiter öffnen würden, über den Rand eines Abgrunds blickten. Nicht nur wegen aktueller Herausforderungen wie Klimawandel, Bevölkerungswachstum, gewalttätiger Extremisten, sondern auch angesichts der Übermacht großer digitaler Unternehmen. Alles, was wir im Netz vermeintlich kostenlos bekämen, bezahlten wir mit unseren Daten, die von den Riesenservern der globalen Internet-Giganten gierig aufgesaugt würden.
Diese Giganten verdienten Milliarden mit dem, was echte Menschen geleistet haben. So bliebe kein Übersetzungsdienst ohne permanente Scans neuer, von Menschen vorgenommener Übersetzungen aktuell. Infolge dieser ökonomischen Schieflage drohten ganze Industrien – Lanier nannte das Beispiel der Musikindustrie – zu kollabieren. "Wenn wir nur zugeben würden, dass wir immer noch gebraucht werden, um die Big Data herzustellen, und wenn wir willens wären, unsere Fantasien von künstlicher Intelligenz zu zügeln, dann könnten wir vielleicht ein neues Wirtschaftsmuster erschaffen, in dem nicht nur die winzige Elite der Milliardäre, die Cloud-Computer betreibt, Geld verdient, sondern die breite Masse."
Kein Schutz gegen das Böse?
Bedenklich sei darüber hinaus, dass jene, die die Riesenserver betreiben, auch die Normen festlegten, nach denen sie funktionieren, und über ganze neue Formen eines Monopols verfügten. Lanier bezeichnete diese Giganten drastisch als "flächendeckendste Spionagedienste der Weltgeschichte", als "Imperien der Verhaltensmanipulation." Facebook beispielsweise steuere heute zum großen Teil die Muster sozialer Verbindungen in der ganzen Welt. Aber ungeklärt sei, wer dessen Macht einmal erbe und wer die Menschheit vor Missbrauch schütze. Hier erinnerte Lanier an den Nationalsozialismus, der seiner eigenen Familie tiefe Wunden zugefügt hat. Die Nazis hätten bewiesen, dass auch eine moderne, hohe Sensibilität kein Schutz gegen das Böse sei. "In dieser Hinsicht verstärkt die Nazi-Zeit meine Sorge, dass das Internet als überlegene Plattform für plötzliche Massengewaltausbrüche von Rudeln oder Clans dienen könnte."
Der graduelle Verlust von Sicherheit sei die bisher größte negative Konsequenz der Netzwerktechnologie, davon ist Jaron Lanier überzeugt. Und er staunt über den Realitätsverlust mancher Hauptbeteiligter der neuen Cloud-Computer. Lebten sie doch in dem Glauben, dass die Technologie sie eines Tages sogar unsterblich machen werde. So finanziere Google eine große Organisation mit dem Ziel, "den Tod zu überwinden." Das dürfe nie geschehen, sagt Jaron Lanier, und warnt davor, Computer wie religiöse Objekte zu behandeln. Es sei richtig zu glauben, "dass Menschen etwas Besonderes sind, nämlich, dass Menschen mehr sind als Maschinen und Algorithmen."
Ein eminent politischer Preis
Bei fast allen sogenannten Netz-Fragen gehe es im Wesentlichen um gesellschaftspolitische Fragen, die wir schon aus der analogen Welt kannten, hatte Martin Schulz in seiner Laudatio hervorgehoben. "Deshalb ist es nicht entscheidend, was Netzpolitiker oder Netzaktivisten sagen, sondern auch derjenige, der kein digital native ist. Auch er hat ein Mitspracherecht in dieser Diskussion." Andernfalls käme es zu einer Vorherrschaft der Ingenieure und Mathematiker. Das aber wäre keine Demokratie mehr. Der digital native Jaron Lanier ist ein wirklicher, ein umsichtiger Vordenker. Und ein Demokrat. Engagiert setzt er sich dafür ein, die Individualität des Einzelnen und damit seine Freiheit zu erhalten, die Menschenrechte nicht preiszugeben und für den Humanismus zu kämpfen. Frank Schirrmacher, unlängst verstorbener Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hatte nach Bekanntgabe des diesjährigen Preisträgers des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gesagt, dass Jaron Lanier einen "eminent politischen Preis" erhalte. Dem ist nichts hinzuzufügen.