Lange Reise mit unbekanntem Ausgang
6. Oktober 2004Kurz vor dem Ende seiner Amtszeit als Erweiterungskommissar hat Günter Verheugen die wichtigste Entscheidung seiner politischen Laufbahn getroffen. Er empfiehlt die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Türkei und schickt die Europäische Union und die Türkei auf eine lange, riskante Reise. Doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt. So gab es zu Beitrittsverhandlungen aus Brüsseler Sicht keine Alternative. Die Türkei war einfach zu gut, sagte Verheugen - und meinte die stille Revolution hin zur Rechtsstaatlichkeit, die sich in den letzten Jahren am Bosporus vollzogen hat.
Das Interesse der Union an einer Integration der muslimisch geprägten, aber nach Europa gewandten Nation ist größer als die nicht zu leugnenden Gefahren. Mit einer Reihe von neuen Kontrollmechanismen will Verheugen sicherstellen, dass der Reformprozeß wirklich unumkehrbar und dauerhaft wird. Diese Bedingungen sollen die öffentliche Meinung in Europa beruhigen und Zweifler unter den Staats- und Regierungchefs beruhigen. Von der Türkei, die seit Jahrzehnten auf Beitritt hofft, werden diese Sonderkonditionen als neuerliche Verzögerungstaktik aufgefasst. Aber Ministerpräsident Recep Tayyip Erodgan wird diese Kröte schlucken müssen, will er den Prozess insgesamt nicht gefährden.
So richtig überzeugt scheint auch die EU-Kommission vom Kandidaten Türkei nicht zu sein. Warum sonst besteht sie darauf, dass am Ende eines zehn, zwölf oder vierzehn Jahren dauernden Verhandlungsmarathons nicht unbedingt der Beitritt stehen müsse? Bislang mündeten Beitrittsverhandlungen, einmal begonnen, immer erfolgreich, also mit der tatsächliche Aufnahme des Kandidaten. Dies ist eine Hintertür, die die Gegner eines Türkeibeitritts in der EU öffnen könnten.
Zu finanziellen Risiken war aus Brüssel offiziell erstaunlich wenig zu hören. Das könne man erst 2010 oder 2014 wirklich abschätzen, so Kommissionspräsident Romano Prodi. Ob die EU dann fit sein wird, um ein neues Mitglied - vielleicht dann das bevölkerungsreichste von allen - zu verkraften, das kann heute niemand sagen. Für die Türkei war die Zusage für Beitrittsverhandlungen eine Frage der nationalen Ehre. Jetzt muss sich die türkische Regierung schnell klar werden, dass EU-Mitgliedschaft bedeutet, Kompetenzen nach Brüssel abzugeben und teilweise auf Souveränität zu verzichten. Nicht wenige Analysten in Ankara und Istanbul sagen, dass vielleicht am Ende die stark national orientierte Türkei selbst feststellt, dass eine Vollmitgliedschaft in der Union doch nicht das Wahre ist.
Am Ende der mutigen Reise wird sich nicht nur die Türkei, sondern auch die Europäische Union völlig verändert haben. Es heißt endgültig Abschied nehmen vom deutsch-französichen Integrations-Motor. Die britisch-polnische Vorstellung von der Freihandelszone mit losem Staatenbund wird von der Türkei eher unterstützt werden. Das Europa der - inklusive der Balkanstaaten - dann 30 Mitglieder wird konzentrische Kreise der stärkeren Zusammenarbeit von Staatengruppen herausbilden. Das Stichwort dazu lautet: Kerneuropa.
Die strategischen und sicherheitspolitischen Vorteile, die ein Türkeibeitritt angeblich haben soll, preisen hauptsächlich die Westeuropäer, allen voran Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Außenminister Joschka Fischer. In der Türkei hört man die These von der Brücke zwischen dem Westen und der islamischen Welt nur selten. Man erwartet von Europa hauptsächlich politische Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwung mit Arbeitsplätzen von den Dardanellen bis nach Südostanatolien. Um das strategische Potential der Türkei zu nutzen, müsste Europa endlich eine gemeinsame Außenpolitik entwickeln. Ein Beitritt ist auch nur denkbar, wenn endlich die Zypernfrage gelöst werden kann.
Die Reise, die am Mittwoch (6.10.) begonnen hat, wird lang. Und ob sie zum Ziel führen wird, ist ungewiss.