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Labour: Denn sie wissen nicht, was sie wollen

Volker Wagener1. Juli 2016

Bei Labour ist die Hölle los. Als Oppositionspartei trat sie für den Verbleib Großbritanniens in der EU ein. Für den Brexit aber hatten vor allem Wähler aus den ehemaligen Industriegebieten gestimmt: Labour-Wähler!

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Jeremy Corbyn
Bild: picture alliance/empics/D. Lawson

Derzeit kommt es knüppeldick für die alte Arbeiterpartei. Nicht genug, dass sich Labour in der Opposition befindet, auch beim EU-Referendum erntet sie gerade die Frustrationen einer Niederlage. Seitdem streiten die Parteioberen auf offener Bühne über fast alles: über die Gründe der Niederlage, über den Parteivorsitzenden, über den politisch-ideologischen Kurs.

Fast das gesamte Schattenkabinett Jeremy Corbyns (Artikelbild), des Partei-Chefs, ist von der Fahne gegangen. Auch im Unterhaus gehen die Labour-Abgeordneten auf Konfrontationskurs gegenüber ihrem Chef. Corbyn wäre unter normalen Bedingungen reif für die Demission, doch an der Basis schätzen sie den spröden 67-Jährigen mit den schlecht sitzenden Anzügen.

Jeremy Corbyn - farblos, aber ehrlich

Corbyn ist erst seit September 2015 an der Spitze der Partei. Labour hatte im Mai 2015 bei den Unterhauswahlen eine historische Niederlage eingefahren. Parteichef Ed Miliband musste gehen. Mit Corbyn wächst die Partei wieder: inzwischen um mehr als 190.000 Neu-Mitglieder. Dabei war er nur als Außenseiter angetreten, doch der überzeugte Sozialist sammelte die Stimmen der Parteilinken ein. Es war eine krachende Niederlage für den New-Labour-Flügel, der unter Blair die Partei in die Mitte gerückt hatte. Blair hatte vor Corbyn gewarnt, "wessen Herz für Corbyn schlägt, der braucht eine Transplantation".

Der kleine Mann mit Vollbart ist vor allem bei Jüngeren beliebt. Vor allem wird ihm Ehrlichkeit attestiert. Und mit seiner unscheinbaren Art gilt er längst als Antiheld im Politikbetrieb. Doch nun wird die Frage gestellt: Welchen Anteil hatte Corbyn am Brexit? Kritiker werfen dem Labour-Chef vor, nur halbherzig für "Remain" gekämpft zu haben. Nicht nur das: Die Migration - zentrales Thema im Brexit-Streit - soll er bewusst außen vor gehalten haben. Labour sei also ohne klare Positionierung in das Referendum gegangen. Die Partei habe also kein Profil erkennen lassen, so die Kritik.

London House of Commons Jeremy Corbyn Rede (Foto: REUTER/Parliament TV/Handout via ReutersATTENTION EDITORS)
Vor allem im Unterhaus schlägt Jeremy Corbyn Ablehnung aus den eigenen Reihen entgegen.Bild: Parliament TV/Handout via Reuters

Tatsächlich zeigten sich die Labour-Anhänger als nur wenig begeisterte Europäer. Und als dann Corbyn Wahrheiten aussprach wie die, dass die Einwanderung nach den Regeln des EU-Binnenmarktes nicht eingedämmt werden könne, trieb er die klassische Labour-Klientel sogar direkt in die Arme des Brexit-Lagers.

Pro EU, aber ohne Engagement

Tatsächlich ist die Haltung Corbyns zur EU verwirrend kompliziert. Der Labour-Führer, so der Eindruck der letzten Wochen vor dem Referendum, wollte möglichst wenig mit dem Thema EU zu tun haben. Er und die Linke in der Partei beäugen Brüssel eher misstrauisch. Corbyn selbst stimmte im 1975er Referendum gegen die damalige EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft). Den Maastricht-Vertrag, der die Euro-Einführung vorbereitete, lehnte er ab. Und noch vor einem Jahr äußerte er sich sehr verständnisvoll über den Brexit. Als er dann Labour-Chef wurde, machten die sozialdemokratischen EU-Politiker Druck und forderten ein klares Bekenntnis pro EU von ihm ein. Seitdem stand Labour offiziell für "Remain". Aber überzeugend dafür gekämpft wurde nicht. Das Ergebnis des Referendums zeigt das unmissverständlich.

Partei der ehemaligen Industrieregionen

Denn der Brexit wurde in klassischen Labour-Regionen "beschlossen". Gerade in den ehemaligen nord- und mittelenglischen Industriegebieten haben sich treue Labour-Wähler für den Ausstieg aus der EU entschieden. 86 Prozent aller Gemeinden mit verarbeitender Industrie stimmten für einen Brexit. Unter denen, die nur unterdurchschnittlich verdienen, votierten 77 Prozent gegen Europa.

Großbritannien Cameron und Corbyn PK nach Mord an Jo Cox (Foto: picture-alliance/empics/PA Wire/D. Lawson)
Zwei mit massiven Problemen in ihren Parteien: David Cameron und Jeremy Corbyn nach dem Mord an Jo Cox.Bild: picture-alliance/empics/PA Wire/D. Lawson

Als Hauptgrund dafür wird die Sorge um die unkontrollierbare Zuwanderung von Billigkonkurrenz aus Osteuropa genannt. Diese Zuwanderung hat zwar den Unternehmen genützt, nicht aber zum Wohlstand der Bevölkerung beigetragen. Labour genießt die volle Unterstützung der größten Gewerkschaft Unite (1,42 Millionen Mitglieder), wird aber in ihrer Wirtschaftskompetenz nur mäßig bewertet.

New Labour und die Linken

Zu allem Überfluss tobt seit Corbyns Amtsübernahme an der Parteispitze ein programmatisch-ideologischer Kampf bei Labour. Bislang hat die große Unterstützung Corbyns an der Parteibasis einen offenen Aufstand der Gemäßigten gegen ihn verhindert. Doch nach dem Brexit-Referendum formieren sich die New-Labour-Anhänger, die unter Tony Blair den Marsch von links in die Mitte angetreten hatten. Corbyn, der Altlinke, hatte es geschafft, Mitglieder zu werben, die sich seit Blairs Regentschaft von der Partei abgewandt hatten. Doch der Brexit verändert gerade alles.

Um eine Chance bei der nächsten Unterhauswahl zu haben, muss Labour mehr als 100 Parlamentssitze hinzugewinnen. Die Frage ist: mit welchem Programm und welchem Personal? Die ideologische Debatte ist gerade erst entbrannt, die personelle ebenso. Laut jüngster Umfragen im Labour-Lager genießt Jeremy Corbyn nur noch bei 51 Prozent der Parteifreunde Rückendeckung. Noch Anfang Mai standen 72 Prozent hinter ihm. Labour muss sich offensichtlich gerade komplett neu erfinden.