"Star von morgen": Künstlerin Otobong Nkanga
16. Oktober 2020Überrascht, geehrt und auch ein bisschen stolz, gibt sich Otobong Nkanga, nachdem sie erfahren hat, dass sie das in der November-Ausgabe des Wirtschaftsmagazins "Capital" veröffentlichte Kunstkompass-Ranking der 100 "Stars von morgen" anführt.
Sie steht auf Platz 1 der Künstler, die noch nicht zu den etablierten Künstlern gezählt werden, aber 2019 im Kunstbetrieb am stärksten an Bedeutung gewonnen haben. Die Etablierten, meist altbekannte, hochbezahlte Künstlerkollegen, finden sich in der Liste der "Top 100" der bedeutendsten lebenden Künstlerinnen und Künstler. Auf Platz 1: der Maler Gerhard Richter.
"Ich habe keine Ahnung, was dies bewirken wird", sagt die in Nigeria geborene Künstlerin im DW-Interview. "Alles, was ich weiß, sind Realitäten des Alltags: dass du arbeitest, dass du mit anderen arbeitest. Du machst verschiedene Dinge und Dinge kommen auf dich zu, während du arbeitest." Gerade in den Zeiten einer globalen Pandemie oder angesichts der Brutalität der Polizei, die in ihrem Heimatland Nigeria jüngst für Proteste gesorgt hat, könne man ohnehin nicht sagen, was die Zukunft für einen bereithalte.
Otobong Nkanga will zu kritischem Denken anregen
Die Zukunft eines Einzelnen hänge von so vielem ab, erklärt sie. "Die Zukunft für mich als Künstlerin steht nicht nur in Zusammenhang mit diesem Kunstkompass oder mit Rankings oder sowas. Vielmehr ist sie von den Möglichkeiten unserer Existenz auf diesem Planeten abhängig", sagt Otobong Nkanga. Damit beschreibt die 46-Jährige zugleich einen auch für ihre Arbeit wesentlichen Aspekt.
In ihrer facettenreichen Kunst adressiert sie immer wieder die Frage nach dem Zusammenspiel von Mensch und Land. Sie versucht zu ergründen, wie der Körper natürliche Ressourcen in Bewegung setzt und wie dieses Agieren Spuren auf der Erde hinterlässt. Doch es geht ihr nicht nur darum, entstehende Defizite aufzuzeigen oder Verdrängung und Ausbeutung sichtbar zu machen.
Wie Clara Meister im Gespräch mit der DW herausstellt, gehe es der Künstlerin "unter anderem auch um die Themenkomplexe von Reparatur und Fürsorge". Meister hat gemeinsam mit Stephanie Rosenthal, der Direktorin des Martin-Gropius-Baus, Nkangas aktuelle Ausstellung in Berlin kuratiert.
Nkanga mache in ihren Performances und Installationen, die in der Schau "There's No Such Thing as Solid Ground" erfahrbar sind, die Komplexität von Beziehungen deutlich: "Nicht nur komplexe Beziehungen zwischen Menschen und Land, sondern auch globale wirtschaftliche oder ökologische Verbindungen". Wie in ihrem bei der documenta 14 in Kassel und Athen begonnenem Projekt "Carved to Flow", wo sie aktiv in den gesellschaftlichen Bereich eingebunden ist. Ganz konkret um die Beziehung von Mensch zu Pflanze geht es im ursprünglich als Performance konzipierten Werk "Diaspore" aus dem Jahr 2014.
"There's No Such Thing as Solid Ground"
In Berlin ist "Diaspore" als Rauminstallation begehbar. Mit der "Königin der Nacht" hat Otobong Nkanga eine Pflanze gewählt, die sie durch den süßlichen Duft, den sie nachts verströmt, an ihre Kindheit auf der Südhalbkugel der Erde erinnert.
Zum anderen verkörpert die Pflanze für Nkanga Bewegung, da sie über Handelsrouten von den Westindischen Inseln, woher sie stammt, unter anderem bis in ihre Heimat in Westafrika gelangte. Nun steht die Pflanze in 15-facher Ausführung, über die gesamte Fläche des Raumes verteilt, in Töpfen auf dem Boden. Diejenigen, die sich bewegen, sind die Besucherinnern und Besucher der Ausstellung.
Mit ihrer Installation möchte Nkanga auch den Geist der Betrachter anregen: "Die Menschen können sich mit dieser Pflanze verbinden, indem sie durch den Raum gehen und vielleicht dabei über menschliche Körper, über Pflanzen, über Land, über Bewegung und Verlagerung nachdenken." Im einem anderen Raum der Ausstellung sind es Steine, mit denen sich in Beziehung treten lässt.
Die durch "Taste of a Stone" entstandene Landschaft soll laut Kuratorin Clara Meister dazu einladen, im Raum "zu verweilen und anzukommen und sich mit den Steinen, aus denen die Installation unter anderem besteht, zusammen Fragen zu stellen: Wo man herkommt, welche Wurzeln man hat, wo man hingeht?" Der Raum ist zugleich als Ort der Begegnung gedacht. Im November werden hier verschiedene Veranstaltungen, sogenannte "movements", stattfinden.
Kunstkompass: Heute ein "Ruhmesbarometer"
Meister freut sich "wahnsinnig für Otobong", dass sie nun auf der Kunstkompass-Liste der "Stars von morgen" steht. So könne ihre Arbeit noch sichtbarer werden. Wahrscheinlich seien auch wirtschaftliche Effekte, durch mehr Verkäufe oder Ausstellungen, erwartbar.
Tatsächlich war es ein Ökonom und Wirtschaftsjournalist, der den ursprünglichen Kunstkompass entwickelt hat. Anhand von bestimmten Kriterien wollte Willi Bongard damit den Ruhm von Künstlern messbar machen. Das erstmals 1970 veröffentlichte Ranking wurde von der Kunstbranche noch kritisch beäugt. Begriffe wie "geschmacklos" oder "Skandal" machten im Zusammenhang mit der Erfindung der "Top 100" die Runde.
Inzwischen verantwortet seine Witwe Linde Rohr-Bongard die bereits zum 50. Mal veröffentlichte Liste, die heute in der Branche auch "Ruhmesbarometer" genannt wird. Rohr-Bongard sei zunächst nicht so überzeugt gewesen von der Idee ihres späteren Ehemannes, heißt es.
Im Interview mit dem Wirtschaftsmagazin "Capital", das die Ergebnisse jedes Jahr veröffentlicht, erzählt sie, anfangs habe sie dieses Ranking als "Affront!" betrachtet. Doch ihre Meinung änderte sich schnell und sie half Willi Bongard schließlich bei der Auswertung: die Zahl der Ausstellungen, Rezensionen in Fachpublikationen und die Auszeichnungen von Künstlern gehen in die Bewertung ein. Belegt mit Punkten entsteht daraus das Kunstkompass-Ranking, das sie seit dem Tod ihres Mannes allein herausgibt.
Rankings zeigen Veränderungen im Kunstbetrieb
"Anfangs reichten noch Karteikarten, während die Datenbank heute über 30 000 Künstler umfasst", erklärt Rohr-Bongard den inzwischen aufwändiger gewordenen Bewertungs-Prozess. Auch müsse sie anstelle von "14 Museen mittlerweile rund 300 Museen beobachten".
Zu der "Top 100" Liste der weltweit einflussreichsten Künstler der Gegenwart, die seit 17 Jahren vom deutschen Maler Gerhard Richter angeführt wird, sind weitere Rankings hinzugekommen. So gibt es seit 1987 den "Olymp", der Ruhm und Rang bereits gestorbener Künstler ausweist und seit 2017 auch das Ranking der "Stars von morgen".
Auf den oberen Plätzen dieser Liste der aufstrebenden Stars finden sich Künstler aus Afrika und Lateinamerika. Hinter Otobong Nkanga aus Nigeria folgen Tomas Saraceno aus Argentinien und Oscar Murillo aus Kolumbien. Linde Rohr-Bongard freut es, dass die "Bedeutung von Künstlern aus Afrika, Südamerika und Asien" deutlich gestiegen ist und besonders, dass augenscheinlich "Frauen im Kunstbetrieb mächtig Gas geben." In beiden Rankings sind Künstlerinnen stark vertreten.
Angekommen im etablierten Kunstbetrieb
Wie die Stationen in Otobong Nkangas künstlerischer Vita belegen, ist ihr Schaffen der letzten Jahre mit "Gas geben" nicht präzise genug beschrieben. Zahlreiche Einzelausstellungen in bedeutsamen Häusern, etwa dem Zeitz MOCAA in Kapstadt oder dem Museum of Contemporary Art in Chicago oder derzeit im Gropius Bau Berlin, sowie mehrere Gruppenausstellungen bei Biennalen, 2019 bei der 58. Biennale di Venezia, sind ein stolzes Karrierekonto.
Außerdem sind Arbeiten von ihr für renommierte öffentliche Sammlungen angekauft worden - das Pariser Centre Pompidou und die Tate Modern in London sind beispielsweise darunter. Ein klares Indiz dafür, dass Nkanga bereits mit Highspeed und sichtbarem Erfolg im etablierten Kunstbetrieb unterwegs ist.
Auch diverse Kunstpreise hat die Künstlerin, die seit einigen Jahren im belgischen Antwerpen lebt, bereits erhalten. 2019 wurde sie für ihr Werk mit einer "Speziellen Erwähnung" bei der 58. Biennale von Venedig ausgezeichnet.
Im selben Jahr verlieh ihr die Stadt Bochum den Peter-Weiss-Preis . In der Begründung der Jury hieß es, dass Nkanga das Werk des Dramatikers, Malers und Filmemachers Weiss (1916-1982) fortführe. Beide hätten den "unbedingte(n) Wille(n) zum Verständnis von Welt durch eine ästhetische Aneignung derselben. Eine Aneignung, die politische Implikationen nicht erzeugt, sondern deren Voraussetzungen nachzeichnet.“
Inhalte wichtiger als die Herkunft der Künstler
Gefragt, ob sie sich als politische Künstlerin sieht, antwortet Otobong Nkanga auf ihre Art: "Ich versuche nicht, zu definieren, was ich bin. Ich interessiere mich nicht für Definitionen. Ich bin daran interessiert, was Dinge tun, wie Dinge etwas widerspiegeln. Manche mögen das politisch oder sozial oder sonst wie bezeichnen".
Politisch äußert sie sich im Gespräch immerhin dahingehend, dass sie sich gelegentlich an der medialen Bewertung von Rankings stört, weil darin häufig die Herkunft von Künstlern betont werde. Ihrer Meinung nach sei es wichtiger als über "Hautfarbe, Rasse, geografische Verortung" zu sprechen, die künstlerischen Inhalte in den Blick zu nehmen.
Was Nkanga als Künstlerin von heute ausmacht, ist auf jeden Fall ihre Vielfältigkeit: "Ich bin eine Poetin. Und ich bin eine Schriftstellerin, eine Künstlerin. Das sind die verschiedenen Dinge, die ich bin", sagt sie. Wer, wie Kuratorin Clara Meister, persönlich mit der Künstlerin zusammengearbeitet hat, erinnert sich noch lange an sie. Otobong Nkanga habe "eine beeindruckende und starke Präsenz. Man hört sie oft schon von weitem, weil sie ganz viel singt und lacht, ganz viel Austausch und Gespräche sucht."
Bis zum 13. Dezember 2020 zeigt der Gropius Bau in Berlin die Einzelausstellung l"There’s No Such Thing as Solid Ground" von Otobong Nkanga.