Nachhaltige Staudämme?
25. März 2012"Flüsse sind für das Leben da, nicht für Dämme", rufen die Demonstranten. Dann werfen sie sich die große Treppe vor dem Bahnhof St. Charles in Marseille hinunter und bleiben vor einer selbst gebauten Staudamm-Mauer aus Plastik wie tot liegen. Mit Aktionen wie dieser wollen Umweltschützer auf die Zerstörung aufmerksam machen, die Staudämme und Wasserkraftwerke weltweit mit sich bringen. Diese gigantischen Projekte brächten keine grüne Energie zum Nutzen der Menschen, argumentieren sie. Ganz im Gegenteil: Für Wasserkraft-Projekte würden riesige Waldflächen abgeholzt. Außerdem gruben Mega-Staudämme den wasserreichsten Flüssen der Welt regelrecht das Wasser ab und zerstörten die Bestände von Fischen und Vögeln. Neben dem Artensterben werden häufig auch die Bewohner aus ihrer Heimat verjagt und umgesiedelt. Umweltorganisationen sprechen von bis zu 80 Millionen Vertriebenen.
An diesen traurigen Fakten können auch neue Ansätze und Ideen zum umweltfreundlicheren Bau von Staudämmen nur wenig ändern. Ein Beispiel für solche Ansätze ist das "Hydropower Sustainability Assessment Protocol", welches die Nachhaltigkeit von Hydroenergie-Projekten bewerten soll. Das Protokoll wurde gemeinsam von Nichtregierungsorganisationen, Regierungen, Entwicklungsbanken und Unternehmen aus dem Wassersektor erarbeitet und 2011 verabschiedet. Es beschreibt ein komplexes Messverfahren für Staudamm-Vorhaben, das mehr als 20 Bereiche berücksichtigt, die für Nachhaltigkeit entscheidend sind - von Wasserqualität über öffentliche Gesundheit bis hin zu Klimawandel und Menschenrechte.
Schwache Standards zur Verbesserung?
Rancon Monabay, Vertreter der französischen Umweltorganisation Ami des Terres, betrachtet das Nachhaltigkeitsprotokoll skeptisch als Versuch, den Staudämmen einen ökologischen Anstrich zu geben, der aber de facto gar nicht vorhanden sei. Neben den schwachen Standards kritisiert er vor allem, dass die Unternehmen selbst die Noten verteilen dürften und darüberhinaus bei allen Kriterien noch nicht einmal einen Mittelwert erreichen müssten. "Es ist gut, dass etwas gemacht wird - doch mit Blick auf die enormen Probleme, ist das alles völlig unzureichend", urteilt Monabay.
Richard M. Taylor, Geschäftsführer der International Hydropower Association (IHA) sieht das zweifellos völlig anders. Zwar räumt auch er ein, dass Messverfahren wie das "Hydropower Sustainability Assessment Protocol" ihre Schwächen haben, doch das liege nun einmal in der Natur der Sache. Er könne sich kein Projekt vorstellen, das mit Bestnoten abschneide, sagt Taylor. "Es muss aber darum gehen, auf die Projekte zu schauen, die schlecht abschneiden - um sie zu verbessern. Und nicht darum, perfekte Ergebnisse zu erzielen. Denn das ist eine Utopie."
Die Realität nicht ausblenden
Doch gerade hier, in der Wirklichkeit, herrsche großer Handlungsbedarf und es müsse noch erheblich viel verbessert werden, monieren die Umweltschützer. Zu den umstrittensten der 50.000 Staudämme weltweit gehört der Ilisu Damm in der Türkei. Baubeginn des Projekts am Tigris war 2008. Nach massiven Protesten zogen Deutschland, die Schweiz sowie mehrere europäische Banken und Unternehmen zwar ihre Unterstützung zurück. Aber der Baustopp währte nur kurz, denn nun macht die Türkei im Alleingang weiter - gegen den Willen der lokalen Bevölkerung. Nach Informationen der Kampagne "Stop Ilisu" würden durch den Staudamm etwa 400 Kilometer des Tigris und seiner Nebenflüsse zerstört. Mehr als 200 bekannte archäologische Fundstätten würden vernichtet, darunter die berühmte antike Stadt Hasankeyf. Rund 100 Fischarten seien vom Aussterben bedroht. Zigtausende Menschen müssten ihre Heimat verlassen, Siedlungen und wertvolles Ackerland würden geflutet.
Ulrich Eichelmann, Vertreter von "Stop Ilisu", bezeichnet das Vorhaben als "rücksichtslose Gigantonomie." Um es zu stoppen, braucht es seiner Meinung nach keine neuen Nachhaltigkeitsprotokolle und Messverfahren. Schließlich habe die Weltstaudammkommission schon Ende der 1990er Jahre entsprechende Empfehlungen veröffentlicht. Und die seien "super", schwärmt er. "Damals hieß es: Wenn ich einen Staudamm bauen will, muss ich fünf soziale und fünf Umweltaspekte berücksichtigen." Daher müsse man sich künftig zunächst die Frage stellen, ob es keine Alternativen zum Staudamm gäbe. Und wenn, dann müsse die Bevölkerung involviert werden. "Es wird aber nach den ältesten Standards gebaut", so Eichelmann. "Und ich behaupte mal, die Standards sind schlimmer als in den 1990er Jahren, weil die Projekte immer größer werden."
Größtes Wasserkraftwerk der Welt
Ein Beispiel dafür ist ein Wasserkraftwerk in der Demokratischen Republik Kongo. 1992 wurde dort bereits das Wasserkraftwerk Inga I fertig gestellt, mit einer Leistung von 52 Megawatt. Zehn Jahre später brachte es Inga II auf 178 Megawatt. Nun befindet sich der Staudamm Inga III im Bau, der 3500 Megawatt Strom liefern soll. Doch damit nicht genug: Bis zum Jahr 2025 soll "Grand Inga" fertig gestellt werden, mit einer geplanten Leistung von bis zu 45.000 Megawatt. Damit wäre es das größte Wasserkraftwerk der Welt.
Immer neue, aber unverbindliche Standards helfen nach Ansicht von Umweltaktivist Eichelmann ganz und gar nicht, um derartigen Megaprojekten Einhalt zu gebieten. Hilfreicher wäre ein weltweiter Masterplan, in dem sogenannte "No Go Areas" verzeichnet sind - Gebiete also, in denen auf keinen Fall neue Dämme und Wasserkraftwerke gebaut werden dürften. Sena Alouka, Geschäftsführer der togolesischen Umweltorganisation "Young Volunteers for the Environment", glaubt, dass Wasserkraft auch in Afrika nicht länger als grünes Allheilmittel betrachtet werden sollte: "Die Staudämme, die bis heute gebaut wurden, haben nicht viel zur ökonomischen Entwicklung beigetragen. Nehmen wir den Fall des Akosombo-Damms in Ghana. Drumherum gibt es Gemeinden, die nicht einmal Strom haben. Kongo hat den größten Staudamm in ganz Afrika - und ist eines der Länder, wo die meisten Menschen im Dunkeln leben", sagt Alouka.
Wenn von den Staudämmen, die die Umwelt massiv zerstören, noch nicht einmal die Anwohner profitierten, dann sei es höchste Zeit, sich auf einen Energiemix zu besinnen, meint er. Tatsächlich ist das Potenzial von Sonne und Wind auf dem afrikanischen Kontinent noch lange nicht ausgeschöpft - und nicht nur dort.