"Kurzfristig hilft der SPD nicht mal eine Reha"
11. Juni 2019Die Wahlergebnisse sind miserabel, die aktuellen Umfragewerte noch viel schlimmer: Seit dem Rücktritt von SPD-Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles vor einer Woche geht es mit den Sozialdemokraten noch weiter abwärts. In der Partei herrscht Ratlosigkeit. Auch darüber, ob die SPD weiter in der Regierungskoalition mit CDU und CSU bleiben soll. Der Parteienforscher Gero Neugebauer beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit der SPD. Seine Analyse fällt hart aus.
DW: Warum sackt die SPD in Wahlen und Umfragen immer weiter ab?
Neugebauer: Die SPD macht seit Jahren Fehler, die in der Wahrnehmung der Bevölkerung signalisieren: Die Partei ist nicht handlungsfähig. Die Führung ist nicht geschlossen genug. Der Parteichef sieht sich nicht in der Lage, als Kanzlerkandidat anzutreten. Die programmatische, langfristige Alternative fehlt. Es fehlen politische und personelle Angebote, so dass die SPD als Alternative zur Union nicht klar erkennbar wird. Und es fehlt auch die Diskussion um eine neue Machtperspektive.
Dazu kommen Fehler in der Koalition. Beispielsweise, immer gute Arbeit zu leisten, aber die Kommunikation dieser Erfolge der Union zu überlassen oder sogar der Kanzlerin, um sich das gutzuschreiben. Das alles zusammen macht die Summe der Fehler aus, die dafür verantwortlich sind, dass die SPD heute dort ist, wo sie ist.
Bei der Europawahl erhielt die SPD 15 Prozent, in Umfragen lag die Partei zuletzt bei nur zwölf Prozent. Ist die SPD überhaupt noch eine Volkspartei?
Die SPD ist keine Volkspartei mehr. Sie ist es schon länger nicht mehr, weil sie durch ihre Wahlergebnisse zeigt, dass sie zwar noch Stimmen bekommt, aber nicht in einem Umfang, der der Nachweis dafür wäre, dass sie in allen relevanten Gruppen der Gesellschaft vertreten ist. Die Mitglieder konzentrieren sich auf einen bestimmten Kreis der Gesellschaft. Insbesondere die untere Mittelschicht und die Unterschicht fehlen, aber auch die obere Mittelschicht. Was noch dazu kommt: Die SPD ist seit einiger Zeit nicht mehr in der Lage, auf der Bundesebene eine Regierung anzuführen.
Das alles sind Argumente, denn es gibt keine geschlossene Definition für Volksparteien. Aber eine Volkspartei muss in der Gesellschaft groß verankert sein. Das zeigt sich in den Mitgliederzahlen, das zeigt sich in den Wahlergebnissen und sie muss in der Lage sein, eine Koalition anzuführen und Mehrheiten zu bilden. Das liefert die SPD schon seit einiger Zeit nicht mehr.
Was sind die Gründe dafür?
Die Gründe sind: Eine mangelnde Wahrnehmung der Veränderungen in der Gesellschaft, ein traditionelles Organisationsdenken mit einer Konzentration auf den Apparat und auf die Mandatsträger in den Parlamenten und gleichzeitig eine relative Missachtung der Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder, die auch Parteimitglieder sind. Das heißt, es findet eine Kommunikation von oben nach unten statt, aber nicht von unten nach oben, so dass die Partei nicht mit der Gesellschaft kommuniziert.
Die Verbindung zwischen Mitgliedern und Führung ist nicht so geschlossen, dass man den Eindruck hat, die Partei ist handlungsfähig. In der Führung gibt es Auseinandersetzungen, die den Eindruck vermitteln, die kümmern sich eigentlich eher um sich selbst, als um ihre politische Aufgabe.
Was kann man da eigentlich empfehlen? Die SPD, diese Traditionspartei, hat dreimal den Kanzler gestellt. Wäre so etwas heute noch denkbar? Und wie sieht die Zukunft aus?
Die drei bisherigen Kanzler hatten in herausragenden politischen Zeiten auch herausragende politische Lösungen anzubieten und waren wirkliche Alternativen. Ich sehe zurzeit keine Perspektive für einen Kanzler oder eine Kanzlerin der SPD, weil keine Person da ist und die SPD auch in einem Zustand ist, der sie nicht in die Lage versetzt, aus Wahlen siegreich hervorzugehen.
Kurzfristig hilft nicht mal eine Rehabilitationsmaßnahme. Das heißt, dass man die Partei in eine Kur schickt und sagt, überlegt mal. Sie muss in der Tat anfangen, über ihre Perspektive nachzudenken, und das muss sie auch mit einer Person verbinden. Es reicht nicht einfach, einen Personalwechsel zu machen.
Man muss eine Person an die Spitze der Partei stellen, die auch mit einer programmatischen Orientierung verknüpft wird, so dass die Menschen sagen können: Das verkörpert diese Person, der kann ich vertrauen und insofern traue ich auch der Partei etwas zu. Auch wenn ich nicht das ganze Programm unterstütze.
Die SPD muss auch darüber nachdenken, ob das, was sie macht, wertorientiert ist. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität müssen als Leitorientierung für die Wählerinnen und Wähler dienen. Das heißt, dass die SPD nicht daran gemessen wird, ob sie nun mehr oder weniger Euro für diese oder jene Maßnahme ausgibt, sondern daran, ob sie die versprochene Gerechtigkeit auch durchsetzt.
Sie muss vor allen Dingen auch die Fähigkeit zurückgewinnen, den Menschen ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Also eine Politik anbieten, die dem Wähler Zukunft und eine sichere Perspektive bietet. Entweder als jemand, der noch in eine Ausbildung geht oder als jemand, der einen Arbeitsplatz hat, der möglicherweise gefährdet ist. Es sind eine ganze Reihe von Dingen, die die Partei erledigen muss. Und das ist nichts, was sich in 24 Tagen oder vielleicht auch schon in zwölf Monaten erledigen lässt. Aber das muss sie möglichst schnell tun, damit sie nicht in Vergessenheit gerät.
Das Interview führte Volker Witting.
Dr. rer. pol. Gero Neugebauer (77) ist ein deutscher Politikwissenschaftler, der bis zum Renteneintritt am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin arbeitete. In der Parteienforschung beschäftigt er sich insbesondere mit der SPD und der Linkspartei.