Masur erzählt Beethoven
11. September 2008Deutsche Welle: Warum stellen Sie sich der Herausforderung, alle neun Sinfonien in vier Tagen aufzuführen?
Kurt Masur: Immer, wenn sie über Beethoven sprechen, sagen die Leute, die glauben, dass sie musikalische Bildung haben: "Ja, ein großer Komponist natürlich, und das ist, hm..." Wenn sie dann ins Detail gehen, dann begreifen viele Beethoven oft als Genussmittel, als Interpret der Ideen der Französischen Revolution, mit Löwenmaul und kämpferischer Gebärde - und seinen Humor als scheinbar begrenzt. Mein Ziel ist, die Menschen begreifen zu lernen, wie er mit seiner ersten Sinfonie begonnen hat: Ich würde im heutigen Sinne sagen, so frech, wie man’s nur machen kann.
Wie haben Sie diesen Zyklus konzipiert? Gibt es so etwas wie einen Bogen?
Natürlich ist das ein Bogen. Wenn man die Sinfonien eins, zwei und drei an einem Abend spielt, ist das schon ein wenig aufwändig. Aber die ersten beiden sind etwas kürzer, und die erste wirklich persönliche Form der Sinfonie hat Beethoven mit der dritten erreicht. Und das ist es, was ich durch dieses Beispiel zeigen will: Jemand, der am Abend dort sitzt, begreift genau, dass die Leichtigkeit, die Poesie, der Humor der ersten mit der dritten schon gar nichts mehr zu tun hat. Und die humanistische Aussage der dritten, die ja ursprünglich Napoleon gewidmet war, wie wir wissen - und dann erst von Beethoven so wütend zerrissen wurde, weil er sich nicht mit einem Kaiser identifizieren wollte oder mit jemandem, der Menschen unterdrückt.
Die entscheidende Frage für mich ist: Wie weit haben wir die Verpflichtung als Interpreten für einen Zuhörer, der mit dem ersten Akkord den Geist dieser Musik zu spüren bekommen möchte? Ich muss sagen, ich habe im Augenblick mit dem Orchestre National de France ein beglückendes Orchester. Wir waren in der Vorbereitung in den Proben auch am Rande der Erschöpfung, weil die Beethoven-Sinfonien nicht so leicht zu spielen sind. Man kann sie nicht leicht spielen, man muss sie ernst spielen. Und man muss auch den Humor ernst nehmen und die Schnelligkeit besitzen, mit der Beethoven plötzlich die Stimmung wechselt. Das sind Dinge, die wir dem Publikum nahe bringen müssen. Sonst heißt es, na ja, der alte Zopf Beethoven, kennen wir ja alles schon.
Entdecken Sie bei Beethoven auch heute noch etwas Neues?
Immer wieder. Wir wissen ja gar nicht mehr, wie die ganz großen Solisten Themen eingeleitet haben. Und da gibt es auch heute wenige Ausnahmen. Ein Jo Jo Ma, Lisa Leonskaja, Anne Sofie Mutter, die erspüren was, die bereiten sich innerlich vor, wie sie das nächste Thema spielen. Und daraus entsteht dann die Verzauberung im Publikum.
Wie kann man Beethoven heute den Menschen erklären? Kann man das überhaupt?
Beethovens Musik ist so vielfältig, es gibt eigentlich keine menschliche Empfindung, die er nicht ausgedrückt hätte. Ob die "Wut über den verloren Groschen", oder "Für Elise", oder all diese kleinen Stücke, von denen man weiß, dass sie Gelegenheitskomposition waren, nur um einem schönen Mädchen oder einer schönen Frau seine Referenz zu erweisen - verliebt war er ja lebenslang, das wissen wir. Die Tragödie seines Lebens ist, dass er, als er die zweite Sinfonie komponierte, zum ersten Mal gemerkt hat, dass sein Gehör nachlässt. Da schrieb er dann das Heiligenstädter Testament: "Oh, ihr Menschen, die ihr mich für ungebärdig oder unbequem haltet, ich will euch nur sagen, dass ich leide."
Das andere Fazit ist dann der Brief an die "Unsterbliche Geliebte", ein Abschiedsbrief an eine der beiden Frauen, die mit ihm in Teblitz zu dieser Zeit Berührung hatten. Der Brief ist nicht abgeschickt worden, aber er ist als Dokument da. Als ich jetzt mit meinem Orchester in Paris die Achte gespielt habe, habe ich den Musikern erzählt: "Schaut, Beethoven hat die ersten acht Sinfonien im Zeitraum von etwas über zehn Jahren geschrieben. Und er hat nach dem Brief an die unsterbliche Geliebte zehn Jahre lang kein großes Orchesterwerk mehr geschrieben. Dann erst die Missa solemnis und noch später die Neunte." Wir müssen uns mal vorstellen, wie einem Mann zumute war, der zu dieser Zeit wirklich nichts hörte. Er hat ja die Uraufführung noch dirigiert, aber hinter ihm stand einer, dem das Orchester und der Chor folgen konnten, weil er selbst völlig wirr da stand und keine Kontrolle mehr hatte. Ein Mann, der es fertig bringt, am Ende seines Lebens noch mal eine Botschaft für die Menschheit zu schreiben. Er war sich wichtig genug, um zu glauben, dass er von Gott den Auftrag dazu hatte. Und keine Abschiedssinfonie wie die Sechste von Tschaikowsky, die eindeutig als Abschiedssinfonie konzipiert ist. Die letzte Botschaft, die dieser kranke, einsame und sich miserabel fühlende Mann den Menschen überlassen hat, war "Freude, schöner Götterfunken". Das ist Größe. Und das gibt auch denen, die die Musik nur hören und nicht besonders viel wissen, Kraft, weil sie spüren, dass diese Musik voller Überwindung von Schwierigkeiten, von Melancholie und von Trauer ist, dass sie wirklich immer bis zum Ende den Willen zum Leben widerspiegelt.