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Kurt Georg Kiesinger managt zwischen 1966 und 1969 eine große Koalition.

28. Juni 2009

In seiner kurzen Amtszeit (1966 – 1969) werden die Grundzüge der späteren Ostpolitik seines Nachfolgers Willy Brandt gelegt und die erste Wirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg bewältigt.

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Undatiertes Portrait von Kurt Georg Kiesinger (Foto: AP)
Bild: AP

In größerer Erinnerung aber bleibt jener 7. November 1968. Kurt Georg Kiesinger sitzt auf dem Podium des CDU-Parteitags in Berlin. Plötzlich stürmt eine junge Frau mit den Rufen "Nazi! Nazi!" nach vorne und verpasst dem verdutzten Bundeskanzler eine schallende Ohrfeige. Ordner und Parteifreunde stürzen sich auf die Frau, nehmen sie in Gewahrsam und übergeben sie der Polizei. Noch am selben Tag wird Beate Klarsfeld in einem beschleunigten Verfahren zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt. Später wird die Strafe auf vier Monate auf Bewährung reduziert.

NS-Karriere

Bundeskanzler Kiesinger lässt sein Auge untersuchen (Foto dpa)
Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger lässt nach der Attacke von Beate Klarsfeld sein Auge untersuchenBild: picture alliance / dpa

Beate Klarsfeld will mit ihrer Attacke auf die NS-Vergangenheit Kiesingers hinweisen. Mit ihrem Mann Serge, dessen Vater in Auschwitz ums Leben gekommen ist, betreibt sie seit Jahren Aufklärung über die Judenverfolgung zur Zeit des Nationalsozialismus. Ein besonderes Ärgernis sind ihr die zum Teil steilen Karrieren von NS-Tätern in der Bundesrepublik. Zu ihnen zählt in ihren Augen auch Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, der schon 1933 in die NSDAP eingetreten ist.

Der 1904 im württembergischen Ebingen geborene Kurt Georg Kiesinger wird 1940 als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter in der Rundfunkabteilung des Außenministeriums "dienstverpflichtet". Drei Jahre später bekleidet er das Amt eines stellvertretenden Abteilungsleiters. Obwohl er offenbar "antijüdische Aktionen" – wie es in einem Sitzungs-Protokoll des Reichssicherheitshauptamtes der SS heißt – verhindert, bleibt dieser biographische Makel erhalten.

Nachkriegskarriere

Nach zweijähriger Haft in einem Internierungslager in Ludwigsburg lässt er sich in Würzburg nieder und zieht 1949 für die CDU in den ersten Deutschen Bundestag ein, dem er bis 1958 angehört. Seine Fähigkeit, Kompromisse auszuloten, ohne die unterschiedlichen politischen Standpunkte verlassen zu müssen, wird in der Funktion des Vorsitzenden des Vermittlungsausschusses über die Parteigrenzen hinweg bekannt.

Kiesinger beim Festakt zum 10-jährigen Bestehen Baden-Wuerttembergs am 18. Mai 1962 in Stuttgart (Foto: AP)
Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger 1962 in StuttgartBild: AP

Als im Dezember 1958 der baden-württembergische Ministerpräsident Gebhard Müller zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts berufen wird, holt ihn die Landtagsfraktion nach Stuttgart zurück und wählt Kiesinger zum Nachfolger Müllers. Bis zur Landtagswahl 1960 steht er einer Mehrparteienkoalition vor. Trotz Stimmenverlusten bei der Landtagswahl kann Kurt Georg Kiesinger 1960 mit der FDP eine Regierung bilden. In den kommenden vier Jahren steigert er seine Popularität in Baden-Württemberg, so dass er 1964 das bis dahin beste Ergebnis für die CDU erreicht.

Regierungschef in Bonn

In Bonn kämpft Bundeskanzler Ludwig Erhard um das politische Überleben und gegen den übergroßen Schatten seines Vorgängers Konrad Adenauer. Als Ende Oktober 1966 die FDP ihre Minister aus der Regierungskoalition zurückzieht, beginnt hinter den Kulissen der CDU ein erbittertes Ringen um die Macht in Partei und Staat. Obwohl Ludwig Erhard Kanzler ist und die Wahl 1965 mit einem überragenden Ergebnis (47,6 %) gewonnen hat, beschließt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihn abzulösen.

Das erste offizielle Foto als Bundeskanzler: Kurt Gerog Kiesinger im Dezember 1966 (Foto: AP)
Kurt Georg Kiesinger an seinem Schreibtisch im Palais Schaumburg in Bonn nach der Wahl zum BundeskanzlerBild: AP

Am 10. November 1966 kommt es zu einer Kampfabstimmung zwischen Außenminister Gerhard Schröder, dem Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel und dem von den baden-württembergischen Abgeordneten ins Rennen geholten Kurt Georg Kiesinger. Nachdem Kiesinger im dritten Wahlgang gewonnen hat, beginnt er Koalitionsverhandlungen mit der FDP. Als diese am 25. November scheitern, verkündet Kiesinger die Bildung einer großen Koalition mit der SPD. Mit einem etwas zaghaften Händedruck besiegelt er mit dem zukünftigen Außenminister Willy Brandt das neue Bündnis. Fünf Tage später wird Kurt Georg Kiesinger zum Kanzler der ersten "großen Koalition" gewählt.

Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt in einer Pause der Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und CDU/CSU (Foto: dpa)
Ungewohnte Koalitionspartner: Willy Brandt (SPD) und Kurt Georg Kiesinger (CDU)Bild: dpa

Das Bündnis mit der SPD ist erfolgreich. Die Rezession und die daraus folgende Schieflage der Bundesfinanzen können überwunden werden. Hinter diesem Erfolg stehen "Plisch und Plum": Franz-Josef Strauß (CSU) als Finanzminister und Karl Schiller (SPD) als Wirtschaftsminister. Sie rufen die "Konzertierte Aktion", also die enge Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, Bund und Ländern, ins Leben und schaffen damit ein Instrument zur Überwindung der Krise. Gesellschaftspolitisch setzt die Große Koaltion die Notstandsgesetze durch, die im Falle einer "äußeren oder inneren Bedrohung" erhebliche Einschränkungen der Grundrechte nach sich ziehen.

Erfolge und Abwahl

Außenpolitisch wird die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition vorbereitet. Es werden diplomatische Beziehungen zu Rumänien, der CSSR und zu Jugoslawien aufgenommen und die Öffnung zu den osteuropäischen Nachbarn vorangetrieben. Kurt Georg Kiesinger ist der Moderator dieser durch sehr unterschiedliche Charaktere geprägten Koalitionsregierung. Schnell hat er sich den Spitznamen "wandelnder Koalitionsausschuss" erworben. Dem Volk ist er weitgehend entrückt. Für die demonstrierenden Studenten hat er kein Verständnis, er wünscht sie in die Universitäten zurück, wo sie zu studieren und nicht zu demonstrieren hätten.

Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger am 28. September 1969 bei einem Interview (Foto: dpa)
Obwohl die Union (CDU und CSU) die mit Abstand stärkste Kraft ist, gibt es eine knappe Mehrheit für SPD und FDP. Noch ahnt Kurt Georg Kiesinger nicht, dass er gerade sein letztes Interview als Bundeskanzler gibtBild: picture-alliance / dpa



Am Abend der Bundestagswahl 1969 sieht alles nach einem haushohen Sieg und einer absoluten Mehrheit von CDU und CSU aus. Mit dem Gefühl auch der kommende Kanzler zu sein, verlässt Kurt Georg Kiesinger am 28. September 1969 gegen 22.00 Uhr die Bonner Parteizentrale. Aber je später der Abend wird, desto mehr holen SPD und und FDP auf, so dass gegen Mitternacht der sozialdemokratische Spitzenkandidat Willy Brandt die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der FDP verkünden kann.

Trotz dieser herben Enttäuschung bleibt Kurt Georg Kiesinger bis 1971 CDU-Parteivorsitzender und bis 1980 Mitglied des Deutschen Bundestags. Anschließend lebt er zurückgezogen in Tübingen, wo er am 9. März 1988 im Alter von 84 Jahren stirbt.

Autor: Matthias von Hellfeld

Redakteurin: Pia Ann Gram