Eskalation im Kurdenkonflikt
14. Februar 2016Das türkische Militär greift weiter kurdische Milizen in Nordsyrien an. Beim Beschuss von neu eroberten Stellungen nördlich der heftig umkämpften Großstadt Aleppo seien am Samstag und Sonntag mindestens zwei Kämpfer getötet und sieben verletzt worden, teilte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London mit. In der Region waren kurdische Volksschutzeinheiten (YPG) und arabische Verbündete zuletzt gegen islamistische Rebellen vorgerückt.
Zuvor hatte die türkische Regierung das Ende des Kampfes gegen kurdische PKK-Kämpfer in der Stadt Cizre im Südosten der Türkei bekannt gegeben. Die Kämpfe dort hatten sich über Monate hingezogen. Nach Angaben der türkischen Streitkräfte wurden dort dabei mehr als 600 PKK-Kämpfer getötet.
"Mentalität des Völkermords"
Die dem inhaftierten Kurdenführer Abdullah Öcalan nahestehende "Union der Gemeinschaften Kurdistans" (KCK) zeigt sich entsetzt über das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. Sie wirft ihnen eine "Mentalität des Völkermords" vor. Insbesondere bezieht sich die KCK auf eine Operation Anfang Februar. Türkische Sicherheitskräfte attackierten ein Gebäude in der Stadt Cizre. In dessen Kellern hatten Dutzende Verletzte Schutz gesucht. Die den Kurden nahestehende "Demokratische Partei der Völker" wirft der Regierung vor, ein Massaker an mindestens 60 Menschen verübt zu haben.
"Wir glauben, dass die Sicherheitskräfte in Cizre einen Massenmord verübt haben, dessen Dimensionen sie erst nach und nach bekannt geben", sagt Selahattin Demirtas, Führer der "Demokratische Partei der Völker" (HDP), im Interview mit der DW. "Die Sicherheitskräfte haben ein Massaker verübt, aber das können sie nicht zugeben. Sie legen die Leichen in Nebenstraßen und zerstörte Häuser, um den Eindruck zu erwecken, die Menschen seien bereits vorher gestorben", so Demirtas weiter.
Umfassende Untersuchung schwierig
Faysal Sariyildiz, HDP-Mitglied und Abgeordneter im türkischen Parlament, hält sich seit zwei Monaten in Cizre auf. Er bestätigt die Berichte vom rigorosen Vorgehen der Sicherheitskräfte. Die in den Kellern ausharrenden Verwundeten hätten aufgrund der Ausgangsperre weder medizinische Behandlung noch Lebensmittel erhalten.
"Wir wissen, dass in dem ersten Keller über 30 Personen gefangen waren. Sieben sind bereits ums Leben gekommen", sagt Sariyildiz. "In den beiden anderen Gebäuden hielten sich 110 Personen auf. Nachdem die Armee diese Gebäude angegriffen hatte, stießen wir auf 70 Leichen. Wir nehmen aber an, dass noch mehr Personen getötet worden sind." Vermutlich sei dabei auch eine Art Brandsatz verwendet worden, da viele Leichen Brandwunden aufgewiesen hätten. "Und zwar so schwere, dass die Körper völlig unkenntlich waren."
Sariyildiz berichtet, er habe eine umfassendere Untersuchung eingeleitet. Der Zugang zum staatlichen Krankenhaus sei ihm allerdings von der türkischen Armee verweigert worden. Er habe sich auch an das Büro des Gouverneurs von Cizre gewandt, aber keine Antwort erhalten.
Ungewisse Zukunft
Der Konflikt im Südosten der Türkei könnte die Krisen in der gesamten Region verstärken, fürchtet der auf den Kurden-Konflikt spezialisierte Politikwissenschaftler Mehmet Alkis von der Marmara-Universität in Istanbul. "Die Radikalisierung im Südosten der Türkei und der durch die Sicherheitspolitik aufgebaute Druck bedingen einander. Allerdings ist die Beziehung zwischen Sicherheitskräften und Untergrundgruppen asymmetrisch", so Alkis. "In diesen Konflikten versuchen Parteien manchmal, Konflikte eskalieren zu lassen und so ihre Positionen zu stärken. Regierungsvertreter haben erklärt, dass die Operation auch in anderen Städten fortgesetzt wird. Das könnte zu einer noch größeren Reaktion und Eskalation des Konflikts führen".
Der Konflikt im Südosten der Türkei steht in Zusammenhang mit den übrigen Konflikten in der Region. Der Anstieg der Gewalt in der Türkei hängt mit der Eskalation in Syrien und dem Irak zusammen. Solange die türkische Regierung ihre Haltung zur syrischen kurdischen Bewegung in dem Nachbarland nicht ändert, werde es der Frieden auch in der Türkei schwer haben, sagt Alkis. "Derzeit beobachten beide Seiten die Situation unter machtpolitischen Vorzeichen. Wenn die Türkei sich von den internationalen Akteuren davon überzeugen lässt, dass eine Koexistenz mit der kurdischen PYD möglich ist, könnte das der Beginn einer Waffenruhe und eines sich daran anschließenden Friedensprozesses sein. Ist das nicht der Fall, werden die Konflikte und Spannungen im Südosten eskalieren."