Kurden verstärkt im Visier Teherans
6. Februar 2021Mindestens 96 Kurden im Iran seien seit Jahresbeginn "offenbar ohne juristische Grundlage und ohne offizielle Begründung" verhaftet worden. So steht es in einem Brief an die Weltöffentlichkeit auf der Webseite der Organisation "Kurdistan Human Rights Network", unterzeichnet von 36 NGOs, darunter Human Rights Watch, Amnesty International und die Gesellschaft für bedrohte Völker.
Dem Brief zufolge handelt es sich bei den Verhafteten um zivilgesellschaftliche und Arbeitsrechtsaktivisten, um Umweltschützer, Autoren, Studenten, aber auch um Personen, die sich politisch gar nicht betätigt haben. Die Angehörigen der Verhafteten seien über deren Aufenthaltsort offenbar nicht informiert. Auf Nachfragen hätten die Behörden mit Beleidigungen und Drohungen reagiert und sie davor gewarnt, sich an die Öffentlichkeit zu wenden, liest man in dem Brief. Den Verhafteten werde der Zugang zu Rechtsbeistand verweigert.
Der Willkürjustiz ausgeliefert
Da den Festgenommenen der Kontakt zur Außenwelt verwehrt wird, könne man über ihre Behandlung in der Haft nur mutmaßen, sagt Dieter Karg, Iran-Experte bei Amnesty International, gegenüber der DW. "Nimmt man das als Anhaltspunkt, was frühere Gefangene uns mitteilten, sieht es düster aus: Viele berichteten über Folter, bis man sie zu einem Geständnis gezwungen hat."
Diese Geständnisse könnten später in "grob unfairen Verfahren" gegen die Verhafteten verwendet würden, fürchten die Unterzeichner. Auch haben sie eine Vermutung, wie der Anklagepunkt bei einem irgendwann beginnenden Prozess lauten könnte: Verletzung der nationalen Sicherheit.
Die Beweggründe der Behörden sind unklar. "Die iranischen Behörden haben nicht erklärt, warum sie gegen eine so große Gruppe von Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund vorgegangen sind", sagt Jasmin Ramsey, Kommunikationsdirektorin des "Center for Human Rights in Iran" (CHRI) mit Sitz in New York, gegenüber der DW. "Ungefähr die Hälfte derer, die ins Visier genommen wurden, haben keine Verbindung zu irgendwelchen Medien, politischen Organisationen oder zivilgesellschaftlichen Gruppen - am meisten gilt das für drei Jugendliche, die in ihrer Heimatstadt Rabat gerade eine Bücherei gegründet hatten." Viele der nun Verhafteten hätten offenbar nur an einer Versammlung teilgenommen oder einen Kommentar in den sozialen Medien verfasst.
Kurdische Autonomie als Bedrohung
Bereits unter dem Schah hatten die im Iran lebenden Kurden Autonomieforderungen gestellt, die sie auch nach der Revolution von 1979 erhoben. "Aus der Sicht Teherans würden andere Gruppen für sich das Gleiche verlangen, gäbe man den Kurden nach", schreiben der Turkologe Martin Strohmeyer und die Ethnologin Yale Yalçin-Heckmann in ihrer Studie "Die Kurden. Geschichte. Politik. Kultur". Viele Minderheiten im Iran lebten in Grenzgebieten zu anderen Staaten. "Unter diesen Umständen hat für Teheran die Forderung der Kurden nach Autonomie den Beigeschmack von Sezession." Diese Position nehmen auch die Regierungen anderer Länder mit kurdischer Bevölkerung in der Region ein, so die Türkei, der Irak und Syrien.
Im Fall des Iran kommt hinzu, dass dieser sich seit 1979 als islamische, genauer: schiitische Republik versteht. "Die Vorstellung ethnischer Minderheiten wurde abgelehnt, weil der Islam ohnehin nicht unterscheide zwischen Muslimen verschiedener Zunge, ja die Vorstellung von Minderheiten wurde sogar als islamfeindlich bezeichnet", schreiben Strohmeyer und Yalçin-Heckmann.
Dessen ungeachtet ist der Iran ein Vielvölkerstaat. Zusammen ergeben die ethnischen Minderheiten fast die Hälfte der Bevölkerung. Die größte Gruppe stellen die Aserbaidschaner (Aseri) mit knapp 20 Prozent, gefolgt von den Kurden mit bis zu zehn Prozent. Überwiegend leben die Minderheiten in den ökonomisch benachteiligten Randgebieten des Iran. "Aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell fühlen sich viele Minderheiten benachteiligt", sagt Dieter Karg von Amnesty International. "Sie fordern etwa, dass ihre Sprachen auch an Schulen unterrichtet werden, dass sie ihre Traditionen bewahren und ihre Feste feiern dürfen, dass sie nicht in den Medien verunglimpft werden und dass ihre Gebiete mehr Autonomie erhalten." Dadurch sieht sich die Staatsmacht unmittelbar herausgefordert.
Angst vor Kontrollverlust
Angesichts der auch unter der Mehrheitsbevölkerung zunehmenden Proteste, wie sie sich etwa im November 2019 zeigten, befürchtet die Staatsmacht anscheinend, die Kontrolle über das Land zu verlieren. "Da es in allen Gebieten der Minderheiten auch bewaffnete Oppositionsgruppen gibt, die Anschläge verüben, wird gerne allen Oppositionellen unterstellt, Verbindungen zu bewaffneten Gruppen zu unterhalten", so Karg.
Seit Beginn dieses Jahres habe der Staat seine Politik den Kurden gegenüber deutlich verschärft, sagt Taimoor Aliassi, Mitbegründer und geschäftsführender Direktor der in Genf ansässigen "Association of Human Rights in Kurdistan" (KMMK-G), deren Name ebenfalls unter dem gemeinsamen Brief steht, der Webseite "Globalvoices". Iranische Staatsmedien wie Fars News betrieben eine Kampagne der Stigmatisierung, Dämonisierung und Kriminalisierung der Kurden, sagt Aliassi. Die Gründe dieser Kampagne sieht er in der schlechten ökonomischen, politischen und sozio-kulturellen Verfassung des Landes, die durch die Corona-Pandemie noch einmal verschärft worden sei.
Aus Sicht des Regimes ergibt das repressive Vorgehen gegen die Minderheiten durchaus Sinn, erläutert Jasmin Ramsey vom "Center for Human Rights in Iran" (CHRI): "Die iranischen Behörden haben eine nachweislich erfolgreiche Bilanz bei der Durchführung regelmäßiger Razzien gegen kurdische und andere Minderheitengruppen im Land, um sie auf diese Weise daran zu hindern, sich massenhaft zu organisieren."