Zerplatzter Traum: Kubricks "Napoleon"-Film
15. Juni 2018Kubrick galt als akribischer Arbeiter. Der Regisseur von Filmen wie "Spartacus", "Lolita" und "2001" war Ende der 1960er Jahre berühmt für seine Besessenheit am Set, aber auch für seine aufwendigen Recherchen im Vorfeld der Dreharbeiten. Vor allem nach seinem Welterfolg, dem Science-Fiction-Epos "2001", den der Regisseur 1968 in die Kinos gebracht hatte und dessen Bedeutung zunächst nur die Fachwelt anerkannte - das Publikum folgte mit Verzögerung - schienen Kubrick alle Möglichkeiten offen zu stehen.
Stanley Kubrick wollte den "ganzen" Napoleon fürs Kino
Der nächste Film sollte also "Napoleon" sein, Kubrick plante einen Film über das Leben des legendären Herrschers. Nicht eine Episode aus der ereignisreichen Vita des Korsen wollte sich Kubrick herausgreifen - nein, es sollte das "ganze" Leben Napoleons auf die Leinwand gebannt werden. War das schon ein Zeichen des Größenwahns? Wie Stanley Kubrick sich damals, Ende der 1960er Jahre, an die Arbeit machte, welchen Aufwand er bei der Recherche betrieb, was er alles ansammelte, las, organisierte, vorbereitete, das kann man nun nachlesen in einem bemerkenswerten Text- und Bildband des deutschen Taschen-Verlags.
Über die Größe Napoleons, wie immer man sie historisch einordnet und bewertet, besteht kein Zweifel. Der Regisseur Kubrick galt - in seinem Fach - ebenso als Besessener, als manischer Arbeiter. Gute Voraussetzungen also für den seit längerem international agierenden Taschen-Verlag, der immer mal wieder Bücher auf den Markt bringt, die man auch getrost als "monumental" bezeichnen kann. Es sind kiloschwere Bände, die mit einer Fülle von Bild- und Textmaterial daherkommen und es so schaffen, dem Leser einen überwältigenden visuellen Eindruck der Kinogeschichte zu vermitteln.
Unfassbar umfangreiche Materialien auf Kubricks Landsitz
In diesem Fall ist es zwar ein Buch über einen Film, der nie gedreht wurde, doch das Material, das zusammengetragen wurde, übertrifft bei weitem das der allermeisten Filme, die tatsächlich realisiert wurden. Die amerikanische Herausgeberin Alison Castle begann bereits vor 16 Jahren mit den Vorarbeiten: "Als ich 2002 mit meinen Recherchen für das Archiv-Buch begann, war ich von der schieren Menge des Napoleon-Materials überrascht, das auf Kubricks Landsitz verblieben war", schwärmt Castle im Vorwort des Buches.
In dem über 800 Seiten dicken Band trifft der Leser auf ausufernde Drehbuchentwürfe, Schriftwechsel jeglicher Art, Kostümstudien, hunderte Fotografien der geplanten Drehorte und sonstige Materialien. Kubrick wollte einen Großteil des Films in Rumänien drehen - mit tausenden Soldaten der rumänischen Armee. Da der Regisseur ahnte, dass die Produktionskosten für seinen Napoleon-Film leicht in nicht zu finanzierende Höhe steigen könnten, wollte er zumindest bei der Besetzung auf hohe Gagen für Weltstars verzichten. Für die Titelrolle waren verschiedene Darsteller im Gespräch - keine Stars, aber gute Schauspieler, wie Kubrick bemerkte: Ian Holm und Oskar Werner, später auch Jack Nicholson, der damals noch keinen Weltstar-Status hatte.
"Napoleon" wäre ein Film über menschliche Torheit geworden
Kubrick wollte einen Napoleon zeichnen, der gerade auch dessen größenwahnsinnigen Charaktermerkmale herausgestrichen hätte: "Viele charakterisieren Kubrick als Filmemacher, der sich in sämtlichen Genres versuchte und sich nie wiederholte", bestätigt Kubricks Nachlassverwalter Jan Harlan, verweist aber gleichzeitig auf ein bindendes Element im Schaffen des Regisseurs: "Obgleich dies (die Genrevielfalt, Anmerk. d. Red.) grundsätzlich zutrifft, lag doch auf einer tieferen Ebene der Quell der Inspiration für nahezu alle seine Filme in seinem immerwährenden Interesse an dem Phänomen der menschlichen Torheit."
Die Filmhistorikerin Eva-Maria Magel fügt in ihrem Aufsatz zu Kubricks Napoleon-Projekt hinzu: "Kubrick tendierte dazu, aus den zwischenmenschlichen Beziehungen Napoleons dessen Persönlichkeitsstruktur zu entwickeln." Einen zweiten Schwerpunkt, so Magel, hätte Stanley Kubrick bei "Napoleons Umgang mit der Macht gesetzt."
Und Kubrick selbst? So dachte der Regisseur über das Leben seines "Film-Helden": "Es hat alles, was eine gute Story braucht. Einen überragenden Helden. Starke Feinde. Bewaffnete Kämpfe. Eine tragische Liebesgeschichte. Treue und verräterische Freunde. Und viel Tapferkeit, Grausamkeit und Sex." So drückte es der Meister kurz und bündig aus.
Als ein Hotelmogul MGM übernahm, war das Projekt tot
Doch all die Vorarbeiten - unter anderem hatte Kubrick mehr als 500 Bücher über den Feldherren gelesen - endeten ohne greifbares Ergebnis. Der Film kam nicht zustande. Vor allem, weil das amerikanische Produktionsstudio Metro-Goldwyn-Mayer Anfang der 70er Jahre den Besitzer wechselte. Der neue MGM-Herrscher, der Hotelier Kirk Kerkorian, stoppte das Projekt. Sein Hauptargument: Verschiedene zeitgleich entstandene Napoleon-Filme hatten an der Kasse gefloppt, der international produzierte Monumentalfilm "Waterloo" des Russen Sergej Bondartschuk, der gerade in den Kinos lief, konnte sein Produktionsbudget kaum einspielen. Das Risiko, einen weiteren teuren Napoleon-Film in den Sand zu setzen, schien zu hoch.
Stanley Kubrick war enttäuscht und deprimiert. Doch seiner Karriere tat das keinen Abbruch. Sein nächstes Projekt "Clockwork Orange" wurde - für Kubricks Verhältnisse - relativ rasch realisiert und wurde ein Erfolg. Und "seinen" historischen Monumentalfilm realisierte Stanley Kubrick dann auch noch: "Barry Lyndon" kam 1975 in die Kinos. Dafür konnte der Regisseur auf einige formale Neuerungen wie den kompromisslosen Einsatz von natürlichem Licht beim Dreh zurückgreifen. Spezielle Aufnahmeverfahren waren ursprünglich für den Napoleon-Film entwickelt worden.
"Stanley Kubricks 'Napoleon' - Der größte Film, der nie gedreht wurde", hrsg. von Alison Castle ist 2018 im Taschen Verlag erschienen, 832 Seiten, ISBN 978-3-8365-7067-1.