Soziale Unruhen: UN-Organisation warnt
9. April 2013"Wenn die Arbeitslosigkeit so hoch ist wie derzeit", sagt Miguel Ángel Malo, "wenn die Armut größer und der soziale Schutz schlechter wird - dann wächst die Gefahr sozialer Unruhen."
Miguel A. Malo ist Wirtschaftsprofessor aus Salamanca, Spanien - ein Land, in dem 56 Prozent aller Jugendlichen keine Arbeit haben. Zudem ist er Wirtschaftsexperte bei der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Für diese Organisation hat Malo nun ein Papier mitverfasst, dessen Hauptthese beunruhigt: Soziale Unruhen werden wahrscheinlicher. Zumindest in Teilen Europas, denn, so die unausgesprochene zweite These: Europa entwickelt sich auseinander.
Immer mehr Arbeitslose
Nach Angaben der UN-Organisation sind derzeit 26,3 Millionen Europäer arbeitslos, gut zehn Millionen mehr als kurz vor Ausbruch der Krise 2008. Im Durchschnitt stehen Europas Arbeitsmärkte also schlechter da als vor der Krise. Und in 22 von 27 Ländern ist das den Daten zufolge auch tatsächlich so. Nur fünf Länder haben höhere Beschäftigungsquoten als 2008, und zwar Österreich und Deutschland, Ungarn, Luxemburg und Malta.
Die EU-Arbeitslosenquote liege bei 10,9 Prozent, schreiben Malo und Kollegen - und damit um 4,1 Prozentpunkte über dem Niveau vor der Krise. Dabei habe die Arbeitslosigkeit in der Eurozone sogar noch schneller zugenommen als im Rest der EU und im Februar 2013 ein historisches Hoch von zwölf Prozent erreicht. Immer mehr Arbeitslose also - und weil auf den Arbeitsmärkten derzeit wenig geschieht, konkurrieren sie um immer weniger Stellen.
Jugendliche, Abgehängte, Underdogs: Ausschreitung statt Arbeit?
Interessanter als die nackten Arbeitslosenzahlen sind aber die Schlüsse, die die Arbeitsmarktexperten daraus ziehen. Und wer sich die Verlierer dieser Entwicklung anschaut, der ahnt, warum die ILO vor Unruhen warnt. Denn kaum Zugang zum Arbeitsmarkt haben vor allem drei Gruppen:
Jugendliche - Jeder Vierte hat keine Arbeit, in Griechenland und Spanien sogar mehr als jeder Zweite. In 26 von 27 EU-Ländern ist die Jugendarbeitslosigkeit in den Krisenjahren gewachsen - nur in Deutschland nicht.
Langzeitarbeitslose - Ihre Zahl hat sich fast verdoppelt, von EU-weit 5,8 Millionen im Jahr 2008 auf aktuell elf Millionen.
Geringqualifizierte - Negative Entwicklungen am Arbeitsmarkt treffen diese Gruppe viel härter als die der Facharbeiter oder Uni-Absolventen.
"Dass da mal der Deckel hochfliegt, das kann man nicht ausschließen"
Druckkochtopf Europa - und wenn der Druck ins Unerträgliche steigt, dann fliegt mit einem lauten Knall der Deckel in die Luft?
"Nein", sagt der Soziologe Martin Diewald der Deutschen Welle. "Dazu sehe ich bezogen auf Europa überhaupt keine Anzeichen." Zwar könne man in einigen Ländern, die besonders hart von der Krise betroffen sind, nicht ausschließen, "dass da mal der Deckel hochfliegt" - etwa im Mittelmeerraum. "Aber dieses Schreckgespenst an die Wand zu malen, das halte ich für überzogen", sagt Diewald.
Messen kann man die Wahrscheinlichkeit einer solchen Entwicklung ohnehin nicht - nur schätzen. Die ILO glaubt, soziale Unruhen seien aktuell EU-weit um zwölf Prozent wahrscheinlicher als vor der Krise. Um zu dieser Zahl zu gelangen, hat sie ein eigenes Bewertungsverfahren entwickelt. Grundlage sind vor allem die Einschätzungen von Umfrageteilnehmern. "Unser Verfahren ist direkt gekoppelt an die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen", sagt ILO-Experte Malo.
Steigt die Arbeitslosigkeit, sinkt die Zuversicht
Je schlechter diese die wirtschaftliche und politische Lage beurteilen, desto größer wird laut ILO - vereinfacht gesagt - das Risiko sozialer Unruhen. Die Gefahr sozialer Unruhen ist dieser Erhebung zufolge gestiegen in Zypern und Griechenland, Italien und Portugal, Spanien, Slowenien und Tschechien. Gesunken ist sie dagegen in Deutschland, Finnland, Belgien, der Slowakei und Schweden.
Man müsse die Lage von Land zu Land betrachten, sagt auch Soziologe Diewald. In einigen Staaten Europas gebe es ohnehin keine riesigen wirtschaftliche Probleme. Und auch in den krisengeschüttelten Ländern reagierten die Bürger unterschiedlich. In Griechenland etwa habe es bereits Ausschreitungen mit Toten gegeben. In Italien und Spanien sei es bisher trotz etlicher Proteste friedlich geblieben. "Da beobachten wir eher, dass sich gut ausgebildete jüngere Menschen in bessergestellte Länder absetzen", sagt Diewald. "Also eher 'Exit' statt 'Voice', um eine alte Typologie des Soziologen Albert Hirschman zu bemühen."
ILO schlägt Kurswechsel vor
Damit es nicht zu Unruhen kommt, schlägt die ILO den gebeutelten Euro-Staaten einen Kurswechsel vor: Weg von der reinen Sparpolitik, an der die Organisation schon häufiger ihre Zweifel geäußert hat. Und hin zu einer gezielten Förderung des Arbeitsmarktes. "Arbeit muss als Ziel aller Bemühungen genau so wichtig sein wie Haushaltskontrolle oder andere volkswirtschaftliche Ziele", sagt Wirtschaftsprofessor Malo.
Zu den ILO-Forderungen gehören etwa mindestens stabile, möglichst aber höhere Löhne und Gehälter - damit kauflustige Arbeitnehmer die Wirtschaft ankurbeln. Auch mehr Bankkredite für kleinere und mittlere Unternehmen fordert die ILO. Zudem sollen Arbeitsmarktprogramme und Beschäftigungsgarantien für Jugendliche her. Damit's nicht überkocht.