"Stieg Larsson - das war eine gute Homestory"
25. August 2015Tobias Gohlis ist Literaturkritiker, Krimispezialist und Journalist, vor allem für die Wochenzeitschrift ZEIT, Begründer und Sprecher der KrimiZEIT-Bestenliste, einer Jury, die zusätzlich zur monatlichen Auflistung eine Jahresbestenliste mit zehn Kriminalromanen erstellt.
DW: Am Donnerstag (27.08.) erscheint der vierte Band der "Millennium"-Trilogie, der nicht mehr von Stieg Larsson selber vollendet werden konnte. Angeblich lag ja das Manuskript zu diesem Buch schon zu drei Vierteln vor, aber soweit bisher bekannt, hat David Lagercrantz einen komplett neuen Text geschrieben und dieses Manuskript nicht benutzt. Was halten Sie von solchen Weiter- oder Neuschreibungen?
Tobias Gohlis: Das ist vielleicht eine Besonderheit der Krimi-Literatur, dass das relativ häufig passiert. Beispielsweise werden immer wieder neue Conan Doyles geschrieben – bei den Sherlock Holmes-Krimis ist das am allerhäufigsten. Die amerikanische Krimi-Autorin Patricia Cornwell hat sich schon als Studentin die 200. Lösung zu Charles Dickens' letztem, unvollendeten Roman "Das Geheimnis des Edwin Drood" ausgedacht.
In gewisser Weise ist das sogar ein Sport. Zum Beispiel hat der US-amerikanische Kriminalschriftsteller Don Winslow mit "Satori" mal eine Fortsetzung der Asien-Abenteuer-Geschichte "Shibumi" des inzwischen kaum noch bekannten amerikanischen Autors Trevanian (Pseudonym von Rodney William Whitaker, Anm. d. Red.) geschrieben. Also, auch große, bekannte Autoren wie Don Winslow versuchen, noch einmal etwas Neues aus dem Stoff zu machen, in demselben Setting. Dass ihn mit David Lagercrantz ein neuer Autor geschrieben hat, sagt über die Qualität des vierten Bandes daher zunächst überhaupt nichts aus. Es könnte sogar sein, dass das das erste richtig gute Buch ist, das zwar nicht unter dem Namen, aber unter dem Etikett Stieg Larsson erscheint.
Denn es wird ja gerätselt – und wahrscheinlich wird das immer offen bleiben – dass Stieg Larsson, der ja von Haus aus Grafiker war, die Bücher nur teilweise selber geschrieben hat. Vielleicht hat er sie konzipiert, aber vermutlich nicht ausformuliert. Es gibt das Gerücht, dass seine Freundin Eva Gabrielsson, die ja auch einen Teil der Tantiemen beansprucht, die Texte nicht nur abgetippt und redigiert, sondern dass sie die Romane überhaupt erst in eine lesbare Form gebracht hat. Man weiß also nicht einmal, ob Stieg Larsson selbst der Autor war.
Wie erklären Sie sich den ungeheuren Erfolg von Stieg Larssons "Millennium"-Trilogie?
Es gibt verschiedene Erklärungsversuche, aber niemand kann es sich so richtig erklären, ich auch nicht. Ich würde sagen, 50 Prozent haben damit zu tun, dass es sich um eine hochinteressante Homestory handelt. Die heißt "Stieg Larsson und seine Erben", der frühe Tod, usw. 30 Prozent sind gutes Marketing, und 20 Prozent dieses Erfolgs haben mit der eigentlichen Geschichte zu tun. Wobei ich da sagen würde, dass er nicht in erster Linie der Kriminalgeschichte zu verdanken ist, sondern einer Sicht auf das Männer-/Frauen-Verhältnis, die es so, in dieser populären Form, vorher vielleicht noch nicht gegeben hat.
Meinen Sie die Liebesgeschichte oder die des Missbrauchs, die Pädophilie?
Ich meine das genereller. Stieg Larsson hat vielleicht nicht als Erster, aber als Erster erfolgreich ein Rollenschema durchbrochen. Die klassischen Frauenrollen sind Opfer wie die berühmten Huren oder die Femmes Fatales des Roman Noir oder der entsprechenden amerikanischen Varianten. Selten oder gar nicht hat es vorher diese Figur einer kämpferischen, toughen, coolen Frau wie Lisbeth Salander gegeben.
Was sie zusätzlich auszeichnet, gerade bei den Verfilmungen, ist ja ihre Kälte als Rächerin. Gleichzeitig ist sie stark und damit eine Identifikationsfigur für vermutlich sehr, sehr viele Leserinnen und sehr viele Leser, weil ihr gleichzeitig eine Männerrolle gegenübersteht, die auf der einen Seite brachial schuldig ist – vergewaltigende Erzieher, die das Kind missbrauchen, sozusagen die übelsten Inkarnationen des Machotums – und auf der anderen der verstehende softe Mann, nämlich Mikael Blomqvist. Ein Mann, der immer sanft ist, der nie den ersten Schritt tut, der niemals als erster küsst. Der in der Darstellung in der schwedischen Verfilmung noch dazu dieses unsäglich platte Gesicht hat, der überhaupt nichts will, und den die Frauen trotzdem mögen. Das heißt, da gibt es zwei Rollen, mit denen sich auch männliche Leser identifizieren können. Und auch diejenigen Frauen, die sich Männer gerne als Wesen vorstellen, die möglichst nichts von ihnen wollen, die sie sozusagen nehmen und als Liebesobjekt betrachten können. Diese Konstellation hat, glaube ich, tatsächlich ihren Reiz als soziales Rollenmodell.
Ist es ungewöhnlich, dass ein Autor in diesem eher trivialen Krimi-Genre posthum so viel Erfolg hat?
Das finde ich nicht. Erstens würde ich den Krimi per se nicht als trivial bezeichnen. Das ist wie bei Romanen generell – es gibt gute und schlechte. Nur es ist so: Über den Erfolg von Utta Danella würde man unter Gesichtspunkten der ernsthaften Literaturkritik nicht reden wollen. Und eigentlich wollen das ernsthafte Literaturkritiker auch über Stieg Larsson nicht.
Zu so einem Welterfolg gehört aber auch immer eine gute Homestory. Vor ein paar Jahren wurde erst von 25 Millionen weltweit verkaufter Bücher gesprochen, dann wurden noch ein paar Filme gedreht, jetzt sind es 80 Millionen, das ist noch großartiger – aber keineswegs außergewöhnlich. Nehmen Sie zum Beispiel Patricia Cornwell – ich weiß gar nicht, wie hoch deren Auflage ist, aber sie wird gehandelt als Autorin, die ungefähr 120 bis 200 Millionen US-Dollar wert ist. Für ihrem Erfolg hat auch eine Geschichte eine große Rolle gespielt, durch die sie zumindest in den USA sehr bekannt wurde: Sie hatte eine Liebesaffäre mit einer FBI-Agentin, die durch sämtliche Medien gezogen wurde. Und die Geschichte von dem tollen antifaschistischen Kämpfer und Anti-Nazi Stieg Larsson, der im Kampf gegen die Rechten und die Ausländerfeinde quasi kettenrauchend über seinem Schreibtisch zusammengebrochen ist, ist ja auch keine so schlechte Story.
Meinen Sie, dass die reale Verankerung, zum Beispiel durch das Magazin Expo, das als Vorlage für die Zeitschrift "Millennium" in den Romanen gilt, eine große Rolle gespielt hat?
Ich denke schon. Anders ist das überhaupt nicht zu erklären. Worauf ich hinaus will: Es muss etwas an den Geschichten, die da erzählt werden, geben, das diese Begeisterung und die Faszination auslöst. Sogar der peruanische Autor Vargas Llosa hat mal gesagt, dass ihn dieser Stieg Larsson irgendwie an den Vater Dumas erinnert, also an einen erfahrenen und erfolgreichen Schnulzenautor aus dem beginnenden 19. Jahrhundert. Trotzdem ist es nicht die literarische Qualität, sondern etwas an diesen Geschichten, was das Publikum anzieht.
Haben Ihnen die Verfilmungen gefallen?
Ich habe nur die schwedischen Verfilmungen mit Noomi Rapace gesehen, nicht die amerikanische des ersten Bandes mit Rooney Mara und Daniel Craig in den Hauptrollen. Zum Teil ja, zum Teil war es auch so, dass mir die absoluten Kruditäten der Story erst recht aufgefallen sind.
Worin bestehen die?
Die Filme sind natürlich von Profis gemacht und daher von der Erzählstruktur her sehr viel glatter und irgendwie auch sinnvoller als die Romane, die ja im Detail auch einen Haufen Stuss enthalten. Erzählerischen, erzähltechnischen Stuss wie lange, sinnlose Beschreibungen von irgendwas, Verwirrungen der Plots – das findet sich in den Filmen in der Regel nicht. Da wussten Regisseur Daniel Alfredson und sein Team, dass sie gute Handwerksarbeit leisten mussten. Insofern haben mir die eigentlich besser gefallen als die Bücher – aber richtige Aufreger waren sie auch nicht.
Das Gespräch führte Sabine Peschel.