Zwischen Lösungssuche und Schuldzuweisung
7. September 2018Grenzüberschreitende Umweltkatastrophe: Auch im Süden der Ukraine, an der faktischen Grenze zu der von Russland annektierten Krim, werden immer mehr Kinder evakuiert. Die Behörden im ukrainischen Gebiet Cherson entschieden am Freitag, Schulen und Kindergärten in der potenziell betroffenen Zone zu schließen und die Kinder in Sanatorien am Schwarzen Meer zu schicken. Sie folgten damit dem Beispiel der international nicht anerkannten Regierung der Krim, die schon Anfang der Woche beschloss, alle Kinder aus der Stadt Armjansk in Sanatorien unterzubringen. Krimchef Sergej Aksjonow deklarierte das als reine Vorsichtsmaßnahme und schloss eine Gefahr für Gesundheit aus.
Gefahr aus dem Säuresammelbecken
Vorangegangen ist ein Unglück auf dem Geländer eines Chemiewerkes bei Armjansk, das Titandioxid herstellt. Ende August legte sich über Nacht eine schmierige, rostfarbene Schicht auf Autos und Dächer. Auf den Bäumen wurde das Laub welk und fiel ab. Viele Bewohner meldeten sich mit Atembeschwerden bei den Behörden. Die genauen Umstände sind bis heute unklar. Vor diesem Hintergrund wächst die Angst vor einer Umweltkatastrophe. Das Titanwerk soll für zwei Wochen stillgelegt werden, allerdings berichteten Bewohner in sozialen Netzwerken, dass die Schlote zunächst weiter qualmten.
Die russischen Behörden auf der Krim kamen nach einer Untersuchung zu dem Schluss, Schuld sei das im Freien liegende Säuresammelbecken des Titanwerks. Teile der dort gelagerten Substanzen aus der Produktion, darunter das Anhydrid der Schwefelsäure, seien wohl wegen einer besonders langen Hitze- und Trockenheitsperiode an die Luft gelangt.
Veraltete Produktionsmethoden
Axel Klein, Chemie-Professor an der Kölner Universität, hält eine solche Erklärung für plausibel. "Das Wort Katastrophe ist unter Umständen sehr hoch gegriffen", so Klein in einem Gespräch mit der Deutschen Welle. "Wenn solche Anlagen nicht auf dem Stand sind, wie sie in Deutschland sind, emittieren sie immer Stoffe aus der Produktion in Form von Gasen und Partikeln. Und natürlich ist nicht gedacht, dass es wochenlang nicht regnet und Partikel und Gase niemals weggewaschen werden", sagt der Experte. Während in der Bundesrepublik die sogenannte Dünnsäure, ein Nebenprodukt bei der Herstellung von Titandioxid, seit rund 20 Jahren nicht mehr unter freiem Himmel gelagert beziehungsweise aufgearbeitet werde, sei das auf der Krim offenbar immer noch der Fall.
Eine akute Gesundheitsgefahr für die Bevölkerung sieht der Kölner Professor nicht, begrüßt jedoch die Evakuierung von Kindern: "Das Gewebe von Kindern ist empfindlicher gegenüber Verätzungen." Auch ältere und kranke Menschen könnten leiden.
Keine Problemlösung in Sicht
Noch ist unklar, wie genau das Problem mit dem Sammelbecken gelöst werden soll. Die Krim-Führung macht die Ukraine mitschuldig an dem Unglück, da Kiew seit der Annexion der Krim kein Süßwasser mehr auf die Halbinsel liefere. Das sei "Terrorismus", wetterte Aksjonow. Der Republikchef berichtete über Pläne, zusätzliches Wasser in das Sammelbecken zu pumpen.
Doch das sei nicht ohne Risiko, warnt der Kölner Chemie-Professor Klein: "Wenn man versucht, eingetrocknete Dünnsäurereste mit Wasser zu verdünnen, dann wird es schnell heiß, und das Wasser kann explosionsartig verdampfen."
Auch Alexander Trenn warnt vor unabsehbaren Folgen des Unglücks. "Es geht in dem Falle um Chemikalien, die oftmals reaktionsfähig sind", sagte der Fachberater Gefahrstofflagen beim Landesfeuerwehrverband Brandenburg der DW. Die Wetterlage sei dabei besonders wichtig. Zuletzt hat es in der Region geregnet, doch der befürchtete "saure Regen" sei nach russischen Angaben ausgeblieben.
Ein Werk am Rande der Zahlungsunfähigkeit
Inzwischen gerät nicht nur das Titanwerk selbst, sondern auch sein Eigentümer ins Rampenlicht, der umstrittene ukrainische Geschäftsmann Dmytro Firtasch. Der 53-jährige Großindustrielle, dem politischer Einfluss in der Ukraine und ein guter Draht nach Moskau nachgesagt wird, lebt seit einigen Jahren faktisch im Asyl in Wien und wird von US-Behörden unter anderem wegen Bestechungsverdacht gesucht. Er bestreitet die Vorwürfe.
Nach der russischen Krim-Annexion 2014 ließ Firtasch sein Titanwerk, das bis dahin "Krimskij Titan" hieß, in "Ukrainian Chemical Products" umbenennen und den Firmensitz nach Kiew verlegen, um Sanktionen zu vermeiden. Dann gründete er eine Firma in Moskau und überließ ihr das Werk in einem Pachtvertrag. Doch ganz spurlos gingen die Sanktionen offenbar nicht vorbei. Das Titanwerk auf der Krim hat Schulden in zweistelliger Dollar-Milliardenhöhe bei einer russischen Bank und steht am Rande der Zahlungsunfähigkeit.