Die Zerrissenheit der Schachwelt
22. März 2022"Gens una sumus", lautet das lateinische Motto des Weltschachverbandes FIDE: "Wir sind eine Familie". Der Ukraine-Krieg droht diese Familie zu zerreißen. Anstatt ihr Können am Brett zu zeigen, sind viele namhafte ukrainische Schach-Profis wie Oleksandr Sulypa dabei, ihr Land zu schützen. Notfalls mit einer Waffe in der Hand, wie er in einem Facebook-Post Anfang März zeigte. "Ich verteidige mein Land gegen Feinde und 'Friedensbringer'. Die Wahrheit wird siegen", schrieb der Kapitän der ukrainischen Schach-Nationalmannschaft.
Auch Pavel Eljanow darf seine Heimat nicht verlassen. "Ich bin mit meiner Familie in relativer Sicherheit im Westen der Ukraine", erzählt der Großmeister, der aus dem umkämpften Kharkiv stammt, im Gespräch mit der DW. Er bemühe sich mit der Situation klarzukommen. Die Sanktionen gegen Russland im Schachsport unterstützt er. Am Mittwoch gab der Weltschachverband FIDE den Ausschluss Russlands und Belarus bekannt. Dieser erfolgte "auf Empfehlung des IOC" und gilt "bis auf weiteres", hieß es in der FIDE-Mitteilung. Einzelspielern aus den betroffenen Ländern sei es aber weiterhin gestattet, unter der Flagge des Weltverbandes anzutreten.
"Ein Ausschluss für Teamwettbewerbe ist ganz klar,“ sagt Pawel Eljanow. Eine generelle Sperre russischer Einzelspieler fände er gegenwärtig ebenfalls zu hart. Einige seiner Kollegen gehen allerdings weiter: 28 Großmeister aus der Ukraine fordern in einem offenen Brief den vollständigen Ausschluss Russlands von internationalen Wettkämpfen und den Rücktritt von FIDE-Präsident Arkady Dworkowitsch aus Russland. Der Konflikt trifft die Schachwelt ganz besonders, weil die Ukraine und Russland dort absolute Schwergewichte sind. Sie bringen nicht nur herausragende Einzelspielerinnen und Einzelspieler hervor, sondern sind seit Jahrzehnten so gut wie immer unter den besten drei Nationen der Schacholympiade, dem wichtigsten Team-Wettbewerb. "Die gemeinsamen Wurzeln der Schachleidenschaft liegen in der Sowjetzeit", erklärt DW-Schach-Experte Holger Hank, "deswegen sind die Verbindungen beider Länder im Schachsport sehr eng."
Appell aus Russland: "Stoppt den Krieg!"
"Es sind vor allem Kontakte auf persönlicher Ebene", sagt Pavel Eljanow. Nach dem Ausbruch des Krieges haben sich russische Spielerkollegen erkundigt, wie es ihm gehe und ihm Hilfe angeboten. Diese Haltung scheint kein Einzelfall zu sein. Im Schach gibt es, anders als in anderen Sportarten, auch Stimmen aus Russland, die sich öffentlich positionieren. "Wir sind für Frieden. Stoppt den Krieg!", heißt es in einem schriftlichen Appell an Staatspräsident Wladimir Putin, der von 34 russischen Großmeistern unterzeichnet wurde - darunter auch Vize-Weltmeister Jan Nepomnjaschtschi.
Bemerkenswert ist auch die Haltung von FIDE-Chef Dworkowitsch, weil er in der Vergangenheit eng mit dem Kreml verbandelt war. Der 49-Jährige gehörte bis 2018 zur politischen Elite Russlands. Der als liberal geltende Ökonom war Chefunterhändler bei G8-Treffen und sechs Jahre lang stellvertretender Ministerpräsident. "Kriege sind das Schlimmste, was man erleben kann - dieser Krieg eingeschlossen", sagte er in einem Interview mit dem US-Internetportal Mother Jones. "Kriege zerstören nicht nur kostbare Menschenleben, sie zerstören Hoffnung und Beziehungen." Er sei in Gedanken bei der ukrainischen Zivilbevölkerung.
Obwohl Dworkowitsch in Moskau politisch schon zuvor kaltgestellt wurde, sind solche Äußerungen für ihn persönlich riskant. "Für diese Einschätzung könnte er strafrechtlich verfolgt werden“, unterstreicht DW-Moskau-Korrespondent Juri Rescheto. "Er benutzt das Wort Krieg, was nach einem neuen Mediengesetz als Diskreditierung der russischen Streitkräfte ausgelegt und mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden kann." Dass es dem höchsten Mann im Weltverband, der im Mai als FIDE-Präsident wiedergewählt werden will, dabei nur um Wahlkampf geht, ist aber unwahrscheinlich. Eljanow ist gegenüber der DW mit seiner Bewertung von Dworkowitsch dennoch skeptisch: "In einem weiteren Interview hat er sich kritisch zu den Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland geäußert, seine Haltung ist für mich also noch etwas diffus." Das sieht DW-Schach-Experte Holger Hank auch so: "Das ist eine Gratwanderung: Dworkowitsch will offenbar im Sommer als FIDE-Präsident wiedergewählt werden und geht daher öffentlich auf Distanz zu Putin."
Top-Spieler Karjakin nach Hetze gegen Ukraine gesperrt
Für Großmeister Pawel Eljanow geht es nicht nur um den russischen FIDE-Präsidenten: Schach-Promis, die den Angriff auf die Ukraine unterstützen, müssten dauerhaft Konsequenzen spüren. Gemeint sind damit Ex-Weltmeister Anatoly Karpow, der als Abgeordneter in der Duma sitzt und dort für den Angriff auf die Ukraine gestimmt hat, und vor allem Top-Spieler Sergey Karjakin. Der 32-jährige Putin-Intimus ist in der Ukraine geboren und spielt seit 2009 für Russland. Vor sechs Jahren war er der Herausforderer vom Weltmeister Magnus Carlsen. Auf Twitter hetzt Karjakin seit Kriegsbeginn gegen die Ukraine, stellt sie als Aggressor dar und verhöhnt die Opfer des Krieges. "Er darf international nicht mehr spielen", fordert Eljanow - und darf sich nun bestätigt fühlen.
Denn der Schach-Weltverband entschied, den früheren WM-Herausforderer wegen Unterstützung für die russische Invasion in die Ukraine für sechs Monate zu sperren. Die Ethikkommission der FIDE sah es als erwiesen an, dass Karjakin damit das Ansehen der Sportart und des Weltverbandes beschädigt und damit gegen den Ethik-Code verstoßen hat. Damit verliert der Russe seinen Platz beim WM-Kandidatenturnier, das vom 16. Juni bis zum 7. Juli 2022 in Madrid stattfinden soll, um den Herausforderer des Schachweltmeisters Magnus Carlsen bei der Schachweltmeisterschaft 2022 zu ermitteln.
Solche krassen Fälle sollten nicht davon ablenken, dass sich weite Teile der Schachwelt gegen den Krieg stellen und sich solidarisch mit der Ukraine zeigen. Auf den Familien-Leitgedanken der FIDE angesprochen zögert Pavel Eljanow keine Sekunde: "Ich spüre das zu 100 Prozent", betont der Großmeister, der seit Ausbruch des Krieges hunderte Nachrichten und Hilfsangebote "vor allem aus Europa, aber auch darüber hinaus" bekommen hat und sagt: "Das bedeutet mir sehr viel."
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