"EU- und NATO-Mitgliedschaft schützen vor Putins Aggressionen"
2. Oktober 2014Deutsche Welle: Wie schätzen Sie die Entwicklungen in Ungarn, Rumänien und Bulgarien ein - auch vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise? Kritiker warnen vor einer "Putinisierung" dieser Länder und vor einem Abdriften nach Osten. Wird das Rad in diesen Ländern unter einem verstärkten russischen Einfluss zurück gedreht?
Gunther Krichbaum: Zunächst sollten wir klären, was wir mit dem Begriff "Putinisierung" verbinden. Wenn wir darunter einen wachsenden Einfluss Russlands auf innen- und außenpolitische Entscheidungen bestimmter EU-Länder meinen, so kann ich eine solche Entwicklung nicht sehen. Ganz im Gegenteil, denn alle 28 EU-Staaten haben die stufenweise Verschärfung der Sanktionen gegen Russland mitgetragen. In Rumänien zum Beispiel sind die Vorbehalte gegenüber Moskau und panslawistischen Phantasien traditionell sehr groß. Mit dem frozen conflict in Transnistrien hat Rumänien zudem einen von Russland verursachten Konfliktherd direkt vor der Haustür.
Durch die Annexion der Krim hat sich nun die gesamte Sicherheitsarchitektur der Region verändert. Putin kann also hier in keinem Fall auf Unterstützung oder auch nur Sympathien hoffen. Im Übrigen sehen die Staaten in Mittel- und Osteuropa gerade sehr deutlich, dass die EU- und NATO-Mitgliedschaft sie vor Putins Aggressionen schützt. Wäre die Ukraine Mitglied der EU oder NATO gewesen, hätte es Russland wahrscheinlich nicht gewagt, die Krim völkerrechtswidrig zu annektieren. Keines der mittel- und osteuropäischen EU- und NATO-Mitglieder sehnt sich danach, wieder dem Warschauer Pakt anzugehören!
Sorgenstaaten: Rumänien, Bulgarien, Ungarn
Der Warschauer Pakt ist Geschichte. Aber es gibt wirtschaftliche Abhängigkeiten, die sich auf die Politik dieser Staaten auswirken.
Natürlich sind die einzelnen EU-Staaten in sehr unterschiedliche Weise wirtschaftlich mit Russland verbunden. So sind einige Länder noch immer zu 100 Prozent von russischen Energielieferungen abhängig. Das müssen wir selbstverständlich berücksichtigen und helfen, diese Abhängigkeit zu vermindern. Wenn ein ungarischer Premierminister aber aufgrund der engen wirtschaftlichen Verflechtungen seines Landes mit Russland öffentlich den Sinn und Zweck der EU-Sanktionen anzweifelt – die er wohlgemerkt im Europäischen Rat mitgetragen hat –, dann wirft das kein gutes Bild auf die innere Geschlossenheit der EU in dieser Frage.
Wenn Sie mit "Putinisierung" hingegen bedenkliche innenpolitische Tendenzen in einzelnen Mitgliedsstaaten der EU meinen, finde ich den Begriff unglücklich. Keiner der Staats- und Regierungschefs in Rumänien, Bulgarien und Ungarn ist mit Putin, seinem Machtstreben und seiner autoritären Herrschaft vergleichbar. Trotz mancher Schönheitsfehler sind alle aus demokratischen Wahlen hervorgegangen. Dennoch will ich nicht verhehlen, dass einige Entwicklungen in diesen Ländern Sorgen bereiten.
Welche Entwicklungen wären das? Nehmen wir die Länder der Reihe nach unter die Lupe und beginnen mit Rumänien.
Hier wurde beispielsweise vor zwei Jahren ein kalter Verfassungsputsch verhindert, und zwar nur durch die massive Intervention der EU-Kommission. Oder auch der ganz aktuelle Plan, das Verbot für kommunale Amtsträger, ihre Parteizugehörigkeit wechseln zu dürfen, für 45 Tage aufzuheben. Das geschieht natürlich nicht zufälligerweise kurz vor der Präsidentschaftswahl und soll ganz klar der Wahlbeeinflussung dienen.
Wie ist die Lage in Bulgarien?
Dort stehen wir jetzt nach monatelangen Protesten vor vorgezogenen Parlamentswahlen. Auslöser hierfür war nicht nur die schlechte wirtschaftliche Lage, sondern vor allem auch die hemmungslose Verteilung staatlicher Posten an unfähige Parteigänger der Regierung. So ein Verhalten gefährdet die Demokratie, weil die Bürger das Vertrauen in den Staat verlieren und so Populisten leichtes Spiel haben.
Ungarn ist das dritte Land im Bunde, das in der Kritik steht.
Gerade in Deutschland steht Ungarn im Zentrum der Kritik. Vieles, was dabei bemängelt wird, muss aber differenzierter betrachtet werden. Wenn in Ungarn mit 45 Prozent der Stimmen eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erzielbar ist, wird dies kritisiert. Wenn durch das britische Mehrheitswahlrecht sehr viele Stimmen unter den Tisch fallen, zweifelt im Gegenzug aber niemand an der dortigen Demokratie. Wir sollten uns daher vor falschen Reflexen hüten.
Aber auch ich sehe in Ungarn besorgniserregende Tendenzen. Nehmen Sie das neue Mediengesetz: Den letzten Versuch, die Medien stärker unter Kontrolle zu bekommen, hatte die EU-Kommission verhindert. Nun erscheint das neue Gesetz als Versuch, diese ursprünglichen Ziele mit anderen Mittel zu erreichen. Scheinbar haben in Budapest viele Akteure nicht wirklich verstanden, warum die Kommission interveniert hat oder sie nehmen die EU nicht ernst.
Mir ist dabei in allen drei Ländern eines wichtig: Der Schutz der Minderheit durch die Mehrheit ist ein Kernbestandteil jeder Demokratie. Die Minderheit muss eine faire Chance haben, bei den nächsten Wahlen wieder zur Mehrheit zu werden. Diese Verantwortung muss jeder aktuellen Parlamentsmehrheit bewusst sein.
"Man braucht ein regelmäßiges Monitoring"
Was kann, was muss die EU unternehmen, um anti-demokratische Tendenzen zu stoppen?
Diese Entwicklungen sind natürlich eine große Herausforderung für die EU. Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit, ob wir die europäischen Werte Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nur nach Außen predigen – zum Beispiel im Erweiterungsprozess – oder auch im Inneren ernst nehmen und leben. Denn mit dem Vertrag von Lissabon ist jeder Bürger eines EU-Staats zugleich auch Unionsbürger geworden, dem die gleichen Rechte zustehen. Deshalb kann es uns nicht gleichgültig sein, wenn beispielsweise die Pressefreiheit eingeschränkt wird oder die demokratischen Rechte gewählter Parlamente beschnitten werden.
Es war daher richtig, dass der ehemalige Außenminister Westerwelle gemeinsam mit anderen EU-Außenministern die sogenannte Rechtsstaatsinitiative gestartet hat. Dabei soll ein einfacheres Verfahren entwickelt werden, um Verstöße gegen die europäischen Grundwerte in EU-Mitgliedsstaaten zu ahnden. Ich verkenne aber zugleich nicht, dass wir hier zu einem gewissen Spagat gezwungen sind, denn die Mitgliedsstaaten der EU sind souveräne Staaten, die bei der Gestaltung ihrer inneren Angelegenheiten einen breiten Spielraum besitzen.
Mir persönlich schwebt – ähnlich wie das Justizbarometer der Kommission oder unser Europäisches Semester – ein regelmäßiges Monitoring der Entwicklung von Demokratie und Grundrechten in allen EU-Mitgliedsstaaten vor. Dieses könnte von der Europäischen Grundrechteagentur in Wien im Auftrag der EU-Kommission durchgeführt werden.
Gunther Krichbaum, CDU, ist Vorsitzender des Europa-Ausschusses im Deutschen Bundestag