Krebserkrankungen bei Kindern
26. Juli 2012"Das ist wirklich, als würde einem der Boden unter den Füßen weggezogen werden", erinnert sich Simone Klapsing noch gut an den Tag der Diagnose. Ihr damals sechsjähriger Sohn Julian hatte Lymphdrüsenkrebs.
Er hatte oft Bauchschmerzen. Das war kurz nach der Einschulung. "Die Ärzte dachten alle, dass es von dem Stress, dem Neuen in der Schule kam. Wir waren sogar bei einer Erziehungsberatungsstelle. Aber keiner wusste was los war." Erst nach vielen anstrengenden und schlauchenden Tests, die Julian über sich ergehen lassen musste, kam die erschreckende Gewissheit: Ein Tumor verursachte Julians Bauchschmerzen. "Wenn es das eigene Kind trifft und man weiß, dass man nichts machen kann, fühlt man sich völlig ausgeliefert. Das ist schon echt eine harte Nummer", sagt Julians Mutter.
Julian nahm die Diagnose zunächst weniger schockiert auf. Mit sechs Jahren hat er das Ausmaß der Krankheit noch nicht verstanden, erinnert sich Julians Mutter: "Wenn ich Julian erzählt hätte, ihm müssten der Blinddarm oder die Mandeln entfernt werden, wäre das für ihn das Gleiche gewesen. Er hat sehr lange gebraucht, bis er zum ersten Mal gefragt hat, ob er davon auch sterben kann."
Wenn beim eigenen Kind Krebs diagnostiziert wird, ist das immer ein großer Schock. Doch die Heilungschancen machen Hoffnung: Fast 85 Prozent der Kinder und Jugendlichen können nach dem Krebs ganz normal und gesund weiter leben. Bei Erwachsenen überlebt je nach Krebsart selten mehr als die Hälfte der Patienten.
Keine Kirschen, keine Schokolade, kein Döner
Heute ist Julian acht Jahre alt. Er rast wie wild durch die Wohnung, rutscht auf den Socken über den glatten Boden. Er erweckt beim besten Willen nicht den Eindruck, als ob er vor Kurzem noch schwer krank war. Doch die Intensivtherapie ist gerade erst ein halbes Jahr her und auch Julian erinnert sich noch gut an die Zeit, in der er auf viele Dinge verzichten musste: "Ich durfte keine Kirschen und keine Nüsse essen. Paprika, Pflaumen, Zwiebeln, Salat und Döner auch nicht."
Julians Immunsystem war durch die Chemotherapie stark geschwächt, rohes Gemüse oder Steinobst kann da schon zu viel Belastung für das Abwehrsystem bedeuten. Deswegen durfte Julian auch nicht unter Leute - immer bestand die Gefahr, sich anzustecken. Das große Planschbecken, das in Julians Garten steht, kam seit dem Kauf noch nicht zum Einsatz. Denn Wasser kann ebenfalls viele Keime transportieren. Doch der schlimmste Verzicht war wohl, dass er seinen Vater nicht mehr auf dem Trecker begleiten durfte. Julians Vater ist Bauer und auch Julian will später einmal in der Landwirtschaft arbeiten.
Verein erfüllt Kindern Wünsche
Julian läuft durch sein Zimmer und lacht: "Trecker, Trecker und noch mal Trecker." Teppichboden, Tapete, Fensterschmuck, Bücher, Bettdecke: alles ist mit Treckern bedruckt und auf dem Boden stehen gefühlte hundert kleine Treckermodelle - ordentlich hat er sie nebeneinander aufgereiht. Julian ist bestens auf seinen zukünftigen Job vorbereitet. Er liebt Trecker und kennt alle Marken.
Vor Kurzem durfte er sogar dahin, wo sein Lieblingsmodell hergestellt wird. Zum Treckerhersteller Claas. Der Verein Herzenswünsche aus Münster erfüllt schwer kranken Kindern Wünsche und hat ihm den Ausflug ermöglicht. Gemeinsam mit seinem besten Freund Felix und seinem Vater durften sie einen ganzen Tag lang die neuen Supertrecker bestaunen.
Der Ausflug war Julians Belohnung. Für zwei Jahre, in denen er immer wieder ins Krankenhaus musste. Julian musste mit vielen Nebenwirkungen kämpfen: Seine Haare fielen aus, ihm war regelmäßig übel und er hatte wunde Stellen im Mund.
Kinder ertragen mehr als Erwachsene
Die Medikamente, die Julian für seine Chemotherapie nehmen musste, greifen nämlich nicht nur die Krebszellen, sondern auch gesunde Zellen an. Hinzu kommt, dass Kinder eine viel intensivere Behandlung bekommen als Erwachsene. Kinder können mehr Medikamente ertragen und somit springt die Therapie besser an. Denn Krebszellen von Kindern sind noch nicht so weit entwickelt wie die von Erwachsenen, erklärt Heribert Jürgens, Leiter der Kinderklinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie in Münster: "Krebserkrankungen bei Kindern stammen von Zellen ab, die teilweise noch einen embryonalen Charakter haben und somit viel verletzlicher sind. Man kann sagen sie sind naiver. Die Krebserkrankungen Erwachsener entstammen dagegen sehr reifen Gewebe und haben somit mehr Mechanismen, sich gegen die Medikamente zu wehren."
Leukämien bei Kindern am häufigsten
Und es gibt noch einen Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern. Bei älteren Krebspatienten sind oft äußere Einflüsse wie die Ernährung, Stress oder das Rauchen Grund für eine Krebserkrankung. Bei Kindern sind dagegen selten äußere Faktoren Auslöser der Krankheit. Sie sind gar nicht lang genug auf der Welt, dass solche einen Krebs auslösen könnten: Krebs bei Kindern und Jugendlichen hat etwas mit dem zu tun, was Kinder tun: wachsen und sich entwickeln. Und das heißt immer Zellteilung. Bei diesen Zellteilungen können Fehler passieren. " Bei Kindern wächst der Krebs deshalb häufig da, wo sich Gewebe am schnellsten entwickelt: Im Abwehrsystem. Und das besteht zum großen Teil aus den Lymphknoten. Fast die Hälfte der Kinder erkrankt an Lymphdrüsenkrebs oder einer Leukämie, also Blutkrebs. Ebenso wird Knochenkrebs am häufigsten bei Jugendlichen diagnostiziert, da diese während der Pubertät sehr schnell wachsen.
Einmal pro Woche muss Julian noch zur Untersuchung in die Uniklinik fahren. Das Gröbste hat er aber schon überstanden. Nach den Sommerferien geht er auch wieder regelmäßig zur Schule, er wird seine Klasse noch mal wiederholen. Aber jetzt freut er sich erstmal auf den Sommer. Dann kann er seinem Vater auf dem Feld helfen und wieder ganz viel Trecker fahren.