Kosten-Nutzen-Rechnung für Flüchtlinge?
15. Januar 2016Wirtschaftswissenschaftler sind Menschen, die nüchtern und rational denken und urteilen. Sie beschäftigen sich hauptsächlich mit Zahlen und Statistiken; Emotionen haben in ihrer Welt keinen Platz. Was liegt also näher, als in der immer hitziger geführten Debatte über die Folgen des anhaltend hohen Zuzugs von Flüchtlingen nach Deutschland Top-Ökonomen zu Wort kommen zu lassen? Vielleicht können sie besser als andere beurteilen, was auf das Land zukommt und ob es die Republik zum Guten oder Schlechten verändern wird.
Das dachte sich auch die Berliner Leibniz-Gemeinschaft, die dazu sechs Chefs führender Wirtschaftsforschungsinstitute einlud und gemeinsam diskutieren ließ: Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Clemens Fuest vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), Reint Gropp vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle, Christoph Schmidt vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI), Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut und Dennis J. Snower vom Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel (IfW).
Schlechte Datenlage
Doch schnell wurde in der Diskussion klar: Ökonomen sind nur selten einer Meinung, und schon gar nicht, wenn Zahlen und Fakten eigentlich nicht ausreichen, um ein fundiertes Urteil zu fällen. Schätzungsweise 1,1 Millionen Menschen sind 2015 nach Deutschland geflüchtet. Knapp die Hälfte von ihnen hat einen Asylantrag gestellt. "Wir wissen nicht, wie die Menschen qualifiziert sind", stellt Clemens Fuest fest. "Wir wissen noch nicht einmal genau, wie viele es wirklich sind."
Sicher ist erst einmal nur, dass die Menschen versorgt werden müssen. Die jährlichen Kosten dafür beziffert Ifo-Chef Sinn mit zwölf bis zwanzig Milliarden Euro. Eine enorme Summe, die nach Ansicht von Marcel Fratzscher aber leicht aufzubringen ist. "Wir haben eine hervorragende Situation in den öffentlichen Kassen, die selten so gut gewesen ist, also ist es gar keine Frage, dass wir das kurzfristig stemmen können."
Sack voller Probleme
Doch was ist mit den langfristigen Folgen? "Je mehr wir heute ausgeben für Qualifikation und Integration, desto schneller und besser kommen diese Menschen in Arbeit und desto höher ist der langfristige Nutzen", stellt Marcel Fratzscher fest. Das ist für ihn aber nur eine Seite der Medaille. Zu der staatlichen komme noch die wirtschaftliche Perspektive. Jemand, der arbeite, nutze auch dem Unternehmen, indem er zur Produktivität und zum Ertrag beitrage und eine Nachfrage schaffe.
Doch dafür müssen die Menschen erst einmal Deutsch lernen und einen Arbeitsplatz finden. Ifo-Chef Sinn ist in dieser Beziehung äußerst pessimistisch. Das Kommen der zahlreichen Flüchtlinge ist für ihn "so oder so ein Sack voll Probleme". Das schließt selbst junge Menschen ein. 65 Prozent derjenigen, die mit 15 Jahren in Syrien die Schule beendet hätten, könnten weder richtig multiplizieren noch dividieren. Auf solchen Schulkenntnissen könne keine Ausbildung aufbauen, selbst Jugendliche müssten noch einmal neu beschult werden.
Ein neuer Niedriglohnsektor?
Sinn tut sich schwer, im Zuzug der Flüchtlinge einen wirtschaftlichen Nutzen zu erkennen. Für ihn ist und bleibt es eine humanitäre Aufgabe, die viel Geld kostet und deren Erfüllung in Frage steht. "Wir werden das nicht durchhalten", prognostiziert er. Ganz so düster wollen das die übrigen fünf Ökonomen nicht sehen. Clemens Fuest regt neue Berufsausbildungen an, kürzere Lehrzeiten für Tätigkeiten, die nicht so hohe Qualifikationen erfordern. Dann sagt er etwas, was in der Politik nicht bei allen gut ankommen wird: "Wir werden einen Niedriglohnsektor brauchen."
Auch Dennis Snower sieht auf dem Arbeitsmarkt noch viel Spielraum. "Wir schöpfen unsere wirtschaftspolitischen Möglichkeiten nicht aus", sagt der Amerikaner. Er regt "Einstellungsgutscheine" an, die der Staat ausgeben könne. Die Firmen müssten dann weniger Lohn zahlen, und wenn der Gutschein auslaufe, werde es sicherlich einen Klebeeffekt geben, das heißt, einige Arbeitnehmer würden auch zu normalen Konditionen in den Unternehmen weiterarbeiten können.
Nicht den Fremden sehen
Snower ist derjenige unter den Ökonomen, der am weitesten über den volkswirtschaftlichen Tellerrand hinausblickt und auch emotionale Komponenten ins Spiel bringt. "Die Kosten für die Integration hängen ab von der sozialen Integration." Wichtig sei, ein gemeinsames Wertesystem und Vertrauen in der Gesellschaft zu schaffen. "Wenn wir die Migranten als Fremde ansehen, haben wir schon verloren." Die einheimische Bevölkerung und die Flüchtlinge müssten eine Gemeinschaft werden. "Die Zuneigung ist entscheidend für das Gelingen dieses Projekts."
Ein Projekt, dessen Kosten keiner der Ökonomen voraussagen will und kann. Die Datenlage lasse lediglich eine kurzfristige Aussage zu, stellt Christoph Schmidt fest. "Langfristig wäre ich da wahnsinnig vorsichtig." Schon kleinste Abweichungen könnten viel ändern, so der RWI-Chef, seriöse Schätzungen könne niemand anbieten, das wäre reine Spekulation.
"Wir brauchen Beitragszahler"
Viel hängt also davon ab, wer nach Deutschland kommt. Alle Wissenschaftler waren sich einig, dass es natürlich besser wäre, wenn sich das Land seine Migranten aussuchen könne, beispielsweise nach einem Punktesystem wie Kanada es hat. Doch davon ist Deutschland weit entfernt. Stattdessen warnte Reint Gropp davor, dass Deutschland den Flüchtlingen vor allem deshalb so attraktiv erscheine, weil es schnell und umfassend Sozialleistungen gebe.
Von Nutzen für die Gesellschaft sind aber nur diejenigen, die Chancen für einen Aufstieg suchen. Selbst angesichts der demografischen Probleme, die auf Deutschland zukommen. "Wir brauchen nicht mehr Menschen, um die Probleme in unseren Sozialkassen zu lösen, sondern wir brauchen Beitragszahler", bringt es Clemens Fuest auf den Punkt. Daher hänge viel davon ab, ob es Deutschland gelinge, die Flüchtlinge so auszubilden, dass sie nach ein paar Jahren "Nettoeinzahler" würden.
Ob das gelingt, sei dahingestellt. Christoph Schmidt warnt daher vor einer "Amortisierungsdebatte". Das wecke nur Erwartungen, von denen niemand wisse, ob sie sich erfüllen würden. "Wenn dann immer noch viele Empfänger von Transferleistungen sind, dann sind viele vielleicht enttäuscht, weil sie sagen, ihr habt uns doch gesagt, in sieben bis zehn Jahren rechnet sich das. Ich denke, das Ökonomische muss da auch seine Grenzen erkennen."
Der Minister kam zu spät
Mehr als alles andere werden die Kosten für die Aufnahme der Flüchtlinge aber davon abhängen, ob in diesem Jahr erneut mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kommen, oder 750.000 oder weniger. Doch das kann niemand voraussagen. Auch nicht Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, der ebenfalls von der Leibniz-Gemeinschaft eingeladen worden war, wenn auch nur zu einem Grußwort.
Da der Minister aber erst eintraf, als die Runde schon lief, wurde er kurzfristig in die Diskussion integriert. Zwar ging es dann erst einmal um politische und weniger um ökonomische Fragen, aber immerhin ließ der Minister durchblicken, dass die Bundesregierung finanziell alles dafür tun will, um "die Gesellschaft zusammenzuhalten". Nichts sei gefährlicher als wenn bei den Bürgern der Eindruck entstehe, "für die Flüchtlinge tut ihr alles und für uns nichts". Neue Wohnungen müssten gebaut werden, Kindergartenplätze geschaffen, neue Lehrer und Polizisten eingestellt werden. "Wir werden das Geld bereitstellen müssen."