Kosovo muss schon wieder wählen
24. Dezember 2020Nach nicht mal sieben Monaten im Amt muss Kosovos Premierminister gehen: Laut Urteil des höchsten Gerichts in der Hauptstadt Prishtina war die Wahl der Regierung unter Avdullah Hoti von der Demokratischen Liga des Kosovo (LDK) am 3.6.2020 nur dank der Stimme eines Abgeordneten zustande gekommen, der laut Verfassung gar nicht im Parlament hätte sitzen dürfen. Er war wegen Betrugs verurteilt worden.
Bei der Abstimmung hatte Hoti die Stimmen von 61 der insgesamt 120 Volksvertreter erhalten - und damit den erst seit Februar 2020 amtierenden, reformorientierten Regierungschef Albin Kurti von der linken Partei "Vetëvendosje" (deutsch: Selbstbestimmung) abgelöst. Seitdem fordert Vetëvendosje Neuwahlen. Die Partei Kurtis war es auch, die die Verfassungsbeschwerde gegen die Regierung Hoti erhoben hatte. Nun bekam sie Recht: Das Parlament muss innerhalb von 40 Tagen neu gewählt werden. Bis dahin soll das Hoti-Kabinett als Interims-Regierung im Amt bleiben.
Bereits seit November diesen Jahres hat die seit 2008 unabhängige ehemalige jugoslawische Provinz Kosovo eine Interims-Präsidentin: Das Amt übt die Parlamentsvorsitzende Vjosa Osmani aus, seitdem das gewählte Staatsoberhaupt, Hashim Thaçi von der Demokratischen Partei Kosovos (PDK), nach einer Anklage vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zurückgetreten war. Laut Verfassung kann Osmani das Amt jedoch nur noch vier Monate lang ausüben.
Mit den Inhabern der beiden wichtigsten Positionen in Europas jüngstem Staat auf Abruf steckt Kosovo nun in einer tiefen institutionellen Krise. Hinzu kommen Probleme beim Umgang mit der Corona-Pandemie: Seit Monaten befindet sich das Land im Lockdown. Die Infektions- und Todes-Zahlen waren zeitweise dramatisch hoch. Das Gesundheitssystem ist offensichtlich völlig überlastet, die Bevölkerung unzufrieden - was die anstehenden Neuwahlen stark beeinflussen dürfte.
Demokratie beschädigt
Institutionelle Krisen sind in Kosovo nicht selten. Seit der Unabhängigkeit ist keine Regierung bis zum Ende der Legislaturperiode im Amt geblieben. Die derzeitige Krise aber sei die schwerste in der Geschichte des kosovarischen Staats, sagt Blerim Burjani, politischer Analyst und Experte für Verfassungsfragen gegenüber der DW. Er macht die politischen Parteien verantwortlich, die "mit ihrem Handeln den Sinn der Demokratie beschädigt" hätten.
"Die Parteien werden wie Privateigentum der Parteivorsitzenden und der Menschen um sie herum behandelt", so Burjani. "Sie betrachten Politik als Mittel, um Gehälter und andere Privilegien zu erhalten. Das untergräbt den Sinn von Demokratie".
Neue Wahlen, alte Parteien
Der Verfassungsexperte hegt wenig Hoffnung, dass Kosovo nach Neuwahlen endlich auf die Beine kommt: "Die Parteien sind die gleichen und die Probleme auch. Diese häufen sich, ohne das Lösungen für sie gefunden werden." Die Demokratie in Kosovo sei im Zustand einer "kompletten Verwirrung und Ungewissheit" aufgrund der Art, mit der die Politiker den Staat behandeln.
Tatsächlich hat Interims-Präsidentin Osmani bereits Gespräche mit Vertretern der politischen Parteien begonnen, um einen Termin für Neuwahlen zu vereinbaren. Dies wird in der Entscheidung des Verfassungsgerichts vorgeschrieben, in der es heißt: "Der Präsident der Republik Kosovo kündigt die Wahlen an, die dann spätestens nach 40 Tagen stattfinden müssen."
Gefahr: Staatsbankrott
Premierminister Avdullah Hoti betonte derweil am 22.12.2020, seine Interims-Regierung arbeite in engem Kontakt mit den Vertretern der anderen Fraktionen im Kosovo-Parlament daran, dass "das Parlament in der jetzigen Zusammensetzung das Budget für das nächste Jahr sowie einige internationale Vereinbarungen in Zusammenhang mit dem Haushalt genehmigt". Gelingt das nicht, rechnen Wirtschaftsexperten mit einem Staatsbankrott.
"Bevor Neuwahlen abgehalten werden, muss das Parlament den Haushalt genehmigen, um einen finanziellen Kollaps zu vermeiden", sagt Safet Gerxhaliu, ehemaliger Präsident der Handelskammer von Kosovo. Höchste Priorität der Politik müsse in Zeiten der Corona-Pandemie sein, das soziale und wirtschaftliche Leben zu gewährleisten, so Gerxhaliu weiter. Er appelliert an die politischen Parteien, "sich zusammenzureißen und ihre eigenen Interessen zurückzustellen".
Die Bürger haben das Wort
Die Mitglieder der derzeitigen Regierungskoalition - Hotis LDK, die Allianz für die Zukunft Kosovos (AAK), die Sozialdemokratische Initiative, die Serbische Liste und Abgeordnete anderer nationaler Minderheiten - kündigten an, dass sie die Entscheidung des Verfassungsgerichts respektieren und sich auf Neuwahlen vorbereiten.
Auch die nach Kurtis Vetëvendosje zweitstärkste Oppositionskraft, die Demokratische Partei Kosovos (PDK), begrüßte die Entscheidung des Verfassungsgerichts. Die aktuelle Regierungskoalition habe "keine parlamentarische Mehrheit mehr, was das normale Funktionieren der staatlichen Institutionen blockiert."
Sowohl der EU-Botschafter in Kosovo, Tomáš Szunyog, als auch die US-Botschaft in Prishtina riefen alle politischen Parteien und Institutionen dazu auf, die Entscheidungen des obersten Gerichts zu respektieren. "Die kosovarischen Behörden müssen sicherstellen, dass die Bürger die Möglichkeit bekommen, ihre Vertreter durch freie, gerechte und friedliche Wahlen zu bestimmen", heißt es in der Erklärung der US-Botschaft.