Kopf-an-Kopf-Rennen in der Ukraine
1. November 2004Der Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko sagte, trotz des "Chaos" sei die Wahl "die einmalige demokratische Chance auf die Errichtung eines Rechtsstaates". Juschtschenko gilt gemeinsam mit dem Moskau-treuen Ministerpräsidenten Viktor Janukowitsch als Favorit auf die Nachfolge des scheidenden Staatschefs Leonid Kutschma.
Der 66-jährige Kutschma tritt nach zehn Jahren autoritärer
Regierung ab. Für seine Nachfolge stehen 24 Kandidaten zur Wahl. Erwartet wurde jedoch ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem pro-westlichen Oppositionsführer Juschtschenko und dem pro-russischen Regierungschef Janukowitsch. Sollte keiner der Bewerber mehr als 50 Prozent der Stimmen bekommen, gibt es am 21. November eine Stichwahl. Mehr als 37 Millionen Wahlberechtigte waren zur Stimmabgabe aufgerufen.
Berichte von Wahlbehinderungen
Unabhängige Wahlbeobachter haben den Ablauf der Präsidentschaftswahl in der Ukraine kritisiert. Zahlreiche Wähler hätten ihre Stimme nicht abgeben können, weil ihre Namen nicht auf den Wählerlisten standen, bemängelte die Nicht-Regierungsorganisation ENEMO, die Wahlbeobachter aus 16 Ländern Osteuropas und der ehemaligen
Sowjetunion umfasst. Zudem seien Studenten von ihren Rektoren unter Druck gesetzt worden. Die ukrainischen Medien berichteten von Problemen mit den Wählerlisten in Kiew, Charkiw, Simferopol und Lwiw.
Massives Polizeiaufgebot
Nach einem von Einschüchterungen und Manipulation gezeichneten Wahlkampf waren im ganzen Land rund 140.000 Polizisten zur Bewachung der mehr als 33.000 Wahllokale abgestellt. In Kiew liefen mit Maschinengewehren bewaffnete Polizisten Patrouille. Zahlreiche Einwohner trugen orangefarbene Halstücher, Blumen oder Hemden als Zeichen ihrer Sympathie für die Oppositionsbewegung. Viele Menschen sagten aber auch, sie hätten Angst, in Unruhen verwickelt zu werden.
Das Gelände der zentralen Wahlkommission in Kiew wurde abgeriegelt. Wasserkanonen und Panzer standen bereit. In Odessa am Schwarzen Meer seien ein Oppositionspolitiker und der Chef eines Wahllokales von der Polizei angegriffen worden, erklärte das Büro des Herausforderers Juschtschenko.
Innenminister Mikola Bilokon kündigte für Montag die Entsendung von rund 2200 Soldaten in die Hauptstadt an. Die Opposition wollte am Montagmorgen eine Großdemonstration in Kiew anführen. Erwartet wurden rund 600.000 Teilnehmer.
Diktatur oder Demokratie?
Die große Mehrheit der Opposition steht geeint hinter Viktor Juschtschenko. Er wirbt mit einer klaren Orientierung auf Europa, will gegen Korruption und Vetternwirtschaft kämpfen und die wirtschaftlichen Situation für die Menschen im Land verbessern. Juschtschenko ist populär. Viele erinnern sich an seine Zeit als Regierungschef von 1999 bis 2000. So stiegen zu seiner Zeit zum Beispiel die Renten.
Wie viele junge Menschen im Land wird auch die Studentin Irina für ihn stimmen: "Ich erwarte von ihm grundsätzliche Änderungen. Ich bin fest davon überzeugt, dass das ein Schritt in Richtung echte Demokratie sein wird. Vor Janukowitsch habe ich keinen Respekt, ich kann ihn weder als Mensch noch als Präsidentschaftskandidat akzeptieren."
Die Wirtschaft hofft
Amtsinhaber Janukowitsch ist gelernter KfZ-Mechaniker. Als junger Mann wurde er wegen einiger gewaltsamer Übergriffe verurteilt. Seine Vorstrafen wurden jedoch inzwischen von eilfertigen und dienstbaren Gerichten aufgehoben. Er hatte es vor dem Wechsel ins Regierungsamt im Jahr 2002 zum Leiter der Donecker Gebietsverwaltung gebracht. Dort, im industriellen und pro-russischen Osten des Landes, hat Janukowitsch seinen Rückhalt.
Doch nicht nur um Janukowitsch, sondern auch in den Umkreis des oppositionellen Kandidaten Viktor Juschtschenko haben sich in den vergangenen Jahren eine Reihe von politischen Karrieristen und Geschäftsleuten gerettet. Sie versprechen sich von dessen Sieg vor allem eines: die Sicherung ihrer eigenen wirtschaftlichen Interessen. Demokraten sucht man im politischen Spektrum der Ukraine zurzeit vergeblich.
Es gibt eine vernichtende Statistik, die deutlich macht, wo das Land heute steht: Starben bei der Förderung einer Million Tonne Kohle 1989 durchschnittlich 1,54 Bergleute, so sind es 2002 schon 5 Bergleute - Tendenz steigend. Zwischen 1992 und dem Jahr 2000 mussten die Menschen im Land Einbußen beim Pro-Kopf-Einkommen von 42 Prozent hinnehmen. Gleichzeitig aber hat die Zahl der Mega-Reichen in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Überall im Land trifft man auf eine parallele Wirtschaft, die brummt - an Finanzämtern und Steuerbehörden vorbei. Alles ist käuflich.
Dabei bleiben viele auf der Strecke: Die Menschen auf dem Land, die Alten, die von einer winzigen Rente leben müssen und die ganz Jungen, die für sich keine Perspektive im Land sehen.
Mit Blick in Richtung Westen
Die Wahl sei ganz ohne Zweifel eine entscheidende Wahl für die Ukraine, meint der deutsche Osteuropawissenschaftler Gerhard Simon: "Wir gehen alle davon aus, dass Juschtschenko für mehr Reformen steht. In der Wirtschaft für mehr Marktoffenheit und mehr Transparenz. Das heißt mittelfristig, dass die Oligarchen zurückgedrängt werden. Janukowitsch ist viel stärker von diesen oligarchischen Gruppen abhängig und mit ihnen verwoben. Bei ihm ist nicht zu erkennen, dass er Wirtschaftsreformen in großem Stil durchführen wird. Außenpolitisch ist offensichtlich, dass Janukowitsch stärker einen eurasischen oder pro-russischen Kurs fahren wird, wohingegen Juschtschenko stärker Anlehnung an den Westen suchen wird."