Türkei-Konflikt in Deutschland?
4. November 2016Wut und Verzweiflung waren es, die in der Nacht zum Freitag viele in Deutschland lebende Kurden zum Alexanderplatz in Berlin oder zu den Hauptbahnhöfen in Köln, Dortmund und Hannover pilgern ließen. Spontan protestierten landesweit hunderte Menschen gegen die Inhaftierung der beiden HDP-Politiker Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Tausende machten ihrer Entrüstung auch in den sozialen Netzwerken Luft. "Das ist eine eindeutige Kriegserklärung Erdogans an das kurdische Volk", sagt auch Ali Toprak, der Vorsitzende der kurdischen Gemeinde in Deutschland, im Interview mit der DW.
Die beiden kurdischen Politiker befanden sich seit Längerem im Fadenkreuz der türkischen Regierung, die seit dem gescheiterten Militärputsch im Juli 30.000 Menschen als "Feinde des Staates" inhaftieren ließ. Die Regierung in Ankara wirft der linksliberalen HDP vor, die verbotene kurdische Arbeiterpartei (PKK) und damit den Terrorismus zu unterstützen. Das weist die Partei zwar zurück. Dennoch wurden in den vergangenen Monaten unliebsame kurdische Politiker abgesetzt, Journalisten verfolgt und pro-kurdische Medien geschlossen. Seit ihrem Wahlerfolg vor knapp einem Jahr war die HDP zur ernsthaften politischen Größe in der Türkei avanciert, Demirtas galt als einer der wichtigsten Rivalen von Präsident Erdogan.
"Demokratische Möglichkeiten genommen"
Dermitas sei ein Hoffnungsträger gewesen - nicht nur für Kurden in der Türkei und in Deutschland, sondern auch für türkische Demokraten, meint Toprak. "Mit der Verhaftung der demokratisch gewählten kurdischen Politiker, die sich für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage eingesetzt hatten, werden den Kurden alle demokratischen Möglichkeiten genommen." Dadurch treibe Erdogan die Kurden in Richtung der PKK. Toprak warnt: "Jetzt wird dieser Konflikt mit Gewalt ausgetragen werden - womöglich sogar noch heftiger als in den letzten Jahrzehnten."
Diese Situation werde sich "eins zu eins auch hier nach Deutschland übertragen, wo Türken und Kurden leben", ist sich Toprak sicher. Wenn er von Türken und Kurden in Deutschland spricht, meint er insgesamt 1,5 Millionen Menschen - Säkulare, Muslime, Konservative und Liberale. So gespalten wie die türkische Gesellschaft ist auch ihre Diaspora in Deutschland. Niemand weiß das besser als Gökay Sofuoglu, Vorsitzender der türkischen Gemeinde in Deutschland. Seine Organisation hat den Anspruch, alle Bevölkerungsgruppen der Türkei zu repräsentieren. Das schließe Sunniten ebenso mit ein wie Aleviten und Kurden, erklärt er im DW-Interview.
Spiegel der türkischen Gesellschaft
"Die türkische Innenpolitik ist sehr präsent in Deutschland", führt Sofuoglu aus. Dass sich inner-türkische Konfliktlinien in der Community der Deutschtürken spiegeln, zeigte sich in den vergangenen Jahren bei Großdemonstrationen von Erdogan-Gegnern wie Anhängern, bei Kundgebungen von AKP-Politikern sowie in den Wahlergebnissen in Deutschland lebender Türken.
Vor allem ein Trend ist zu beobachten: Viele türkischstämmige Deutsche identifizieren sich immer noch stark mit ihrem Herkunftsland. So veröffentlichte der Religionssoziologie Detlef Pollack erst im Juni eine umfangreiche Studie, in der er feststellte, dass Deutschtürken sich zwar gut integriert fühlten, zugleich aber glauben, nicht als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft wahrgenommen zu werden.
Das kommt vor allem einem entgegen: Erdogan. Bei den Parlamentswahlen im November 2015 stimmten knapp 60 Prozent der türkischen Wähler in Deutschland für Erdogans AKP. Der türkische Präsident nutzt die oft jahrzehntelangen Erfahrungen der Ausgrenzung, um Sympathien zu gewinnen. Sein Mantra: Ihr gehört zu uns. Damit gibt er vielen Türkischstämmigen in Deutschland das Gefühl, stolz sein zu können, auf ihre Herkunft und darauf, was "ihr" Präsident für sie leistet.
"Als Terroristen deklariert"
"Es gibt Gruppen innerhalb der türkischen Community in Deutschland, die alles verteidigen, was Erdogan macht, weil sie sich eine Türkei wünschen, die anders ist als die bisherige", erläutert Toprak. Erdogan treibe die Türkei hin zu einer islamischen Diktatur, meint er. Für seine Anhänger gehöre das, was im Moment in der Türkei passiere, "zum Erreichen dieses Ziels dazu". Der Chef der kurdischen Gemeinde in Deutschland fügt hinzu: Alle, die eine gegenteilige Meinung ausdrückten, würden "als Terroristen deklariert und so behandelt".
Toprak selbst werde täglich vor allem über die sozialen Medien angegriffen, weil er öffentlich Erdogans Politik kritisiere. Erst am Donnerstag bildete die deutsche Ausgabe der türkischen Zeitung "Sabah" Toprak zusammen mit Grünen-Chef Cem Özdemir und dem nach Deutschland geflohenen türkischen Journalisten Can Dündar ab und stellte sie als Verräter dar. Die Zeitung gilt als Sprachrohr der AKP. "Das führt natürlich dazu, dass viele nationalislamistische Türken uns als Verräter betrachten", meint Toprak.
"Die Welt schweigt"
In den nächsten Tagen werde es zu zahlreichen Demonstrationen und Kundgebungen kommen, prophezeien sowohl Toprak als auch Sofuoglu. "Kurden und liberale Türken werden ihre Meinung zum Ausdruck bringen wollen", erläutert Sofuoglu. "Das wird für Konfliktstoff innerhalb der türkischen Community sorgen."
Toprak geht noch einen Schritt weiter: "Falls in den nächsten Tagen die türkischen Nationalisten auf die Straßen gehen und zu Gegendemonstrationen aufrufen, dann ist nicht auszuschließen, dass es auch hier in Deutschland zu Ausschreitungen kommt." Er betont: "Die Kurden sind verzweifelt, weil ihre demokratischen Politiker festgenommen worden sind und die Welt schweigt." Wenn die Menschen das Gefühl bekämen, dass niemand ihnen zuhöre, könne das zu unüberlegten Aktionen führen.
An dieser Stelle sieht Toprak vor allem die Bundesregierung in der Verantwortung. Die deutsche Politik müsse deeskalierend wirken, indem sie "Erdogans Vorgehen unmissverständlich verurteilt", fordert er. Die Forderungen der Kurden seien eindeutig: EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei sofort aussetzen, alle finanziellen Hilfen stoppen, Waffenlieferungen beenden.