Vertrauenskrise zum Frühlingsfest
Ein ungewöhnlicher Start ins traditionelle chinesische Neujahr: Die Menschen sind verunsichert durch die Ausbreitung einer mysteriösen Lungenerkrankung. Der Erreger, das Coronavirus, ist zwar bekannt, aber viel weiß man derzeit nicht: Wie verbreitet sich das Virus? Woher stammt es ursprünglich? Ist eine Ansteckungsgefahr von Mensch zu Mensch bewiesen? Unwissen macht Angst.
In vielen Familien sind bereits das traditionelle Festessen und das gesellige Beisammensein am Vorabend zum Neujahr ausgefallen. Die Menschen haben Sorge, sich gegenseitig mit dem potenziell tödlichen Virus anzustecken. Besuche bei Verwandten und Freunden werden aus demselben Grund abgesagt, genau wie lang geplante Urlaubsreisen. Fast in allen chinesischen Provinzen werden immer neue Fälle der neuartigen Lungenkrankheit bestätigt.
Maßnahmen verhältnismäßig?
Der chinesische Staat handelt schnell und unbürokratisch: Vorsorglich ist die Elf-Millionen-Metropole Wuhan am Yangtse-Fluss, in der die Krankheit erstmals auftrat, von der Außenwelt isoliert. Kein Flug, kein Zug, keine Fähre - auch die Autobahnausfahrten sind gesperrt, wie es die Regierung es am Donnerstag (23.01.) angeordnet hat. Benachbarte Städte wurden ebenfalls abgeriegelt.
Sämtliche Straßen werden mit Desinfektionsmitteln gereinigt. Starke Polizeipräsenz beschützt Bahnhöfe, den Flughafen und Krankenhäuser. Wer mit den Infizierten in Kontakt gewesen sei, werde im Krankenhaus isoliert und beobachtet, heißt es. Investigativ-Journalisten in Wuhan wurden an Recherchen in der Isolierstation von der Polizei gehindert, ihre Notizen und Aufnahmen mussten vernichtet werden.
Das Freitagsgebet für Muslime durfte nicht stattfinden. Große Feierlichkeiten zum Frühlingsfest wurden abgesagt. Das Disneyland in Shanghai bleibt ab Neujahr bis auf weiteres geschlossen. Alle Reiseveranstalter dürfen ab sofort keine Gruppenpauschalreisen mehr anbieten, bis es das Tourismusministerium wieder zulässt. Die Nervosität ist sogar in Deutschland zu spüren: Viele chinesische Sprachenschulen folgen am Wochenende ebenfalls dem Aufruf aus dem Heimatland - der Chinesischunterricht fällt für zwei Wochen aus.
Die Gerüchteküche kocht
In der unübersichtlichen Situation um Leben und Tod suchen die Menschen Orientierung. Aber wer danach sucht, wird enttäuscht. Es ist nicht einmal klar, ob die Atemmasken mehr Sicherheit bieten - obwohl alle sie tragen.
Die Bürger glauben ihrer Regierung und deren Propagandamaschine nämlich nicht. Über die amtlichen Medien werden nur beruhigende Nachrichten verbreitet. Ihre Botschaft: Die Behörden haben alles im Griff! Doch diese Meldungen der Staatsmedien werden schlicht und einfach ignoriert.
Die sozialen Medien "Weibo" und "WeChat" haben deutlich mehr Anhänger. Die Menschen tauschen Erfahrungen aus und geben einander Ratschläge: Welches ist die beste Maske? Hilft Mundspülung mit Kochsalzlösung? Gibt es neue Verdachtsfälle in der Stadt?
Vieles entpuppt sich als unnütz oder Fehlinformation. Erst gibt es Aussagen, dann ein Dementi. Und in kurzem zeitlichen Abstand folgt dann die nächste Runde. Doch in einer Frage ist sich die Netzgemeinschaft einig - eine Frage, für die es keine überzeugende Antwort gibt: Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass gefühlt das ganze Land in Panik geraten ist?
Untätigkeit lokaler Behörden
Das Pekinger Außenministerium behauptete zwar am Donnerstag, China hätte die Öffentlichkeit und die Weltgesundheitsorganisation zeitnah und umfassend über den Ausbruch informiert. Aber das stimmt so nicht ganz.
Der erste bekannte Krankheitsfall wurde am 8. Dezember in Wuhan gemeldet. Doch das städtische Gesundheitsamt informierte die Öffentlichkeit erst am 30. Dezember über die seinerzeit noch unbekannte ansteckende Lungenerkrankung. In den 22 Tagen dazwischen hätte das Virus möglicherweise noch im Keim erstickt werden können.
Das Wuhaner Gesundheitsamt wusste, dass die ersten Fälle auf einem Markt aufgetreten waren, auf dem Meeresfrüchte und Wildtiere zum Verzehr verkauft werden. Und dass das Virus möglicherweise von diesen Tieren stammte. Doch der 50.000 qm große Markt mit circa 1000 Händlern wurde erst am 1. Januar geschlossen. Und der Markt liegt 200 Meter Luftlinie von einem der Hauptbahnhöfe entfernt. An diesem einen Bahnhof wurden 2019 in sechs Wochen um das Frühlingsfest herum 5,5 Millionen Fahrgäste gezählt. Die rasche Verbreitung über diesen hoch frequentierten Platz schien programmiert zu sein.
Vielleicht ist das ganze Ausmaß sogar auf menschliches Versagen zurückzuführen, denn der Verkauf von Wildtieren wie Dachs, Kamel, Pfau und Co. ist auf diesem Markt eigentlich nicht gestattet. Niemand kann bisher erklären, warum die lokalen Behörden nicht einschritten und so lange eine drohende Epidemie verschwiegen hatte.
Vertrauen kann man nicht kaufen
Der Verdacht, lokale Funktionäre hätten versucht, das wahre Ausmaß der Krankheitsfälle zu vertuschen, um ihre politische Karriere nicht zu gefährden, erschüttert die Glaubwürdigkeit jener Regierung, die durch die Etablierung eines Social-Credit-Systems für Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Moral im Sozialismus wirbt.
Die Pekinger Zentralregierung stellte am Freitag eine großzügige Soforthilfe von umgerechnet 140 Millionen Euro zur Verfügung, um die Ausbreitung zu minimieren. Die Infizierten und die Verdachtsfälle erhalten kostenlose medizinische Versorgung. Geld heilt Wunden und beseitigt Schäden. Doch eines kann die Regierung mit Geld nicht kaufen: das Vertrauen der Menschen.