Schwäche bedeutet Stärke
Angela Merkel scheint nach dem "Nein" der Griechen zum Sparprogramm der europäischen Institution vor einem Trümmerhaufen zu stehen. Über Monate hinweg hatte sich die deutsche Bundeskanzlerin dafür eingesetzt, Griechenlands Staatsbankrott zu verhindern, indem die Europäische Union ihre finanziellen Hilfen an Athen an Reformauflagen knüpft.
"Hilfe gegen Reformen", so lautete jener Slogan Merkels, der von den Staats- und Regierungschefs der 18 Euro-Mitgliedsländer mitgetragen wurde - mit Ausnahme Griechenlands. Dort galt und gilt die Euro-Rettungspolitik aus ihrer Feder als "Demütigung".
Langwierig, aber erfolgreich
War Merkels europapolitischer Kurs Konkursverschleppung? Und war der Wille zu immer neuen Verhandlungsrunden in Wahrheit ein Ausdruck politischer Schwäche? Ganz im Gegenteil. Denn die Suche nach tragbaren Kompromissen auf EU-Ebene ist eine Schwäche, die über 60 erfolgreiche Jahre der europäischen Integration erst möglich gemacht hat.
Dabei ist unverkennbar, dass die EU ein Produkt von anhaltenden Krisen, Pleiten und auch Skandalen ist. Und dabei ist unverkennbar, dass die griechische Staatsschuldenkrise alles an Krisendiplomatie in den Schatten gestellt hat, was die EU bis dato kannte.
Aber am Grundprinzip, dass Europa gemeinsam, oder gar nicht erfolgreich ist, ändert auch die Griechenland-Krise nichts. "Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg", hatte Merkel vor dem Referendum gesagt. Und jetzt gilt es, sie daran zu erinnern, dass der Glaube daran, dass Europa durch scheinbar endlos lange Verhandlungen für alle tragbare Ergebnisse bringen kann, jener Klebstoff ist, der das europäische Gebäude zusammenhält. Das gilt auch, wenn es wie in diesem Fall um viel Geld geht.
Ist die Klebstoff-Tube jetzt plötzlich im Falle Griechenlands leer? Für viele ist die "Stunde Null" in der Eurokrise gekommen. Also jene Stunde, in der Angela Merkel Farbe bekennen muss: Gelten Europas Regeln, oder gelten sie nicht?
Eine stark verkürzte Sicht der Dinge. Auch wenn die griechischen Regierungen der Vergangenheit die wohl mit Abstand spektakulärsten Verletzungen des EU-Rechts zu Werke gebracht haben: Die Einzigen, die gegen gemeinsame Regeln verstießen, sind sie bei weitem nicht. Europa braucht Regeln - und eine gemeinsame Währung braucht besonders viele und besonders gute davon. Aber genauso wie es diese Regeln braucht, braucht es einen europäischen Geist, der Verständigung will, wo sie schwer vorstellbar zu sein scheint.
Unendliche Geduld
Also Verhandlungen um jeden Preis? Dieser Appell ist kein Freibrief für verantwortungslose Politik ohne Ziel und Verstand. Aber es ist ein Weckruf für all jene, die sich nach schnellen Lösungen für den griechischen Schlamassel sehnen.
Der Weg aus der politischen Sackgasse wird mühsam, kleine Schritte im Merkelschen Sinne erscheinen da angebracht. Europas Fürsorge füreinander und die Nachsicht untereinander gehören genauso zum genetischen Fingerabdruck des Euroraums wie der Ruf nach Prinzipientreue und der Ruf nach einer Gemeinschaft des Rechts.
Das mag in Zeiten, in denen es finanziell ums Ganze geht, weder populär noch politisch attraktiv erscheinen. Aber es gehört zur historischen Wahrheit des europäischen Projekts, dass dies immer dann erfolgreich war, wenn man vom klaren Kurs abgewichen ist.
Europa und Griechenland brauchen einander - und sollten in diesem Geist neue Verhandlungen wagen. Doch bevor sie beginnen, müssen beide Seiten den Mut haben, sich ihre bisherigen Verhandlungsfehler einzugestehen. Das erfordert Mut – eigene Schwächen zu zeigen - und zwar auf beiden Seiten. Aber er ist die einzige Möglichkeit, wie nach mehreren Monaten glückloser Verhandlungen jener Klebstoff wieder zu wirken beginnt, der bisher das politische Projekt Europa zusammengehalten hat: Der Wille zum Kompromiss.