Schluss mit dem Versteckspiel
Bei jeder der Verschlechterung der politischen Zustände in der Türkei beginnt erneut das Für und Wider zum Thema EU-Beitrittsverhandlungen. Präsident Erdogan verfolgt seit Jahren konsequent den Weg zu einer autokratischen Herrschaft, und natürlich wissen alle in Europa längst, dass die auf Eis liegenden formellen Gespräche eine Fiktion sind. Die Frage ist nur, ob es diplomatisch klüger ist, sie aufrecht zu erhalten, oder ob der Punkt erreicht ist, an dem die EU Konsequenzen aus dem provozierenden Verhalten des türkischen Präsidenten ziehen muss, um ihr Gesicht zu wahren.
Politik aus einer anderen Zeit
Als die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei 2005 eröffnet wurden, befand sich die EU noch in einem Zeitalter größerer Hoffnung und Unschuld. Es waren maßgeblich europäische Sozialdemoraten, die damals dieses Projekt beförderten in dem Glauben, der Beitrittsprozess könne gleichsam eine zähmende und demokratisierende Wirkung auf ein Land haben, dass an der europäischen Nachkriegsentwicklung bis dahin nur am Rande teilgenommen hatte.
Die Debatte konzentrierte sich damals vor allem auf die Frage, ob die Türkei nach irgendeiner Definition geographisch und politisch noch zu Europa zu zählen sei oder nicht. Zweifel an der Nachhaltigkeit der demokratischen Entwicklung des Landes und dem damals noch als Modernisierer geltenden Recep Tayyip Erdogan gab es nur vereinzelt. Und Widerstände bei konservativen Parteien, etwa den deutschen Christdemokraten, beruhten vor allem auf instinktiver Abneigung gegenüber der Aufnahme eines bevölkerungsreichen, muslimischen Landes.
Zweifel am Prozess waren übrigens schon damals angebracht: Wer Erdogan genauer zuhörte, konnte bereits die arroganten Formulierungen erkennen, nach der Devise: Nicht wir treten der EU bei - sie wird der Türkei beitreten. Und was die Beweggründe des damaligen Premiers Tony Blair als einem der größten Türkei-Befürworter angeht, so standen sie ganz in britischer Tradition: Er war gegen die politische Vertiefung der EU und förderte daher ihre grenzenlose Ausweitung als Handelsbündnis. Und SPD-Kanzler Gerhard Schröder wollte Versprechen einlösen, die sein Vorgänger Helmut Kohl ohne Ansehen der Akteure schon früher gemacht hatte, um der europäischen Kontinuität willen.
Der Traum ist geplatzt
Der Blick zurück zeigt, dass es von Anfang auch Zweifel über die Beitrittsfähigkeit der Türkei gab. Inzwischen aber ist dieses Projekt Hoffnung der EU ist implodiert und es ist Zeit, sich davon zu verabschieden.
Es gibt durchaus Gegenargumente. Der Hinweis auf den Gesprächsfaden zu Ankara, den man erhalten müsse, wie auch auf die Hoffnungen der Opposition hat Gewicht. Nur: Wie können die Europäer türkischen Oppositionellen überhaupt noch helfen, wenn schon ihre eigenen Bürger in politische Geiselhaft genommen werden und Berlin offenbar wenig für sie tun kann. Und konstruktive Gespräche mit Erdogan, der immer mehr als maßlos tobender Alleinherrscher auftritt, umgeben nur noch von der Clique seiner Höflinge, gibt es seit Monaten nicht mehr. Angela Merkel musste sich bei ihrem jüngsten Besuch brüskieren lassen. Die EU aber hat in den vergangenen Jahren nicht ein Stückchen seiner anti-demokratischen Machtergreifung verhindern können. Sie war nur hilfloser Zuschauer.
Gesichtswahrung ist nötig
Es ist deshalb Zeit, sich von der Illusion zu verabschieden, man könne noch irgendwie als Kraft zum Guten wirken. Ein Blick nach Polen zeigt übrigens, wie schwer das sogar innerhalb des eigenen Lagers ist, wenn ein Staat seine existierende Demokratie demontiert. Eine weitere Auseinandersetzung mit der Türkei aber, die regelmäßig zu haltlosen Beschimpfungen europäischer Regierungschefs und ihrer Länder führt, ist inzwischen mehr schädlich als nützlich. Die EU muss sich nicht alles bieten lassen. Jetzt geht es auch um die Wahrung des eigenen Gesichtes und der europäischen Werte. Sonst schlägt politische Klugheit um in Schwäche.
Außerdem sind die Drohungen aus Ankara weitgehend hohl. Die Türkei wird in der NATO bleiben, weil sie geopolitisch kaum eine andere Wahl hat. Und das Flüchtlingsabkommen hat sich inzwischen weitgehend von selbst erledigt. Der Zustrom von Syrern und Irakern hat nachgelassen und Migranten aus dem ferneren Osten wissen inzwischen auch, dass sie in Lagern in Griechenland stecken bleiben.
Der Schlüssel liegt in der Wirtschaft
Es gibt allerhand Möglichkeiten für die Europäer, Erdogan die rote Karte zu zeigen. Der nächste Schritt auf dem EU-Gipfel im Oktober wäre die formelle Suspendierung der Beitrittsgespräche. Dieser Beschluss kann mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden und begründet sich aus der aktuellen Lage im Land. Damit sind auch die Vorbeitrittshilfen einfroren, für die bis 2020 immerhin noch rund neun Milliarden Euro bereit stehen. Dazu gehören auch die Sperrung weiterer Kreditlinien und -sicherungen sowie Reisewarnungen, solange weiter deutsche und andere Bürger zu politischen Gefangenen gemacht werden. Und überhaupt keine Rede sein kann mehr von einer Ausweitung der Zollunion.
Die türkischen Wirtschaftsvertreter, die darunter leiden werden, müssen aus eigener Kraft ihren Sultan und seine autokratische Politik bremsen. Aber den Säuberungswellen und nachfolgenden stalinistischen Schauprozessen in der Türkei kann Europa nicht als potenzieller politischer Partner zusehen. Es ist Zeit, sich ehrlich zu machen und einzugestehen, dass das Projekt EU-Beitritt der Türkei gescheitert ist. Jedenfalls solange der Herrscher in Ankara Recep Tayyip Erdogan heißt.
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