Kommentar: Runder Tisch für Mexiko!
9. November 2014"Ya me cansé"- es reicht. Das sagte der Generalstaatsanwalt, als er die Öffentlichkeit über seine Ermittlungsergebnisse informierte: Über das Geständnis dreier mutmaßlicher Drogengangster, die Studenten ermordet und ihre Leichen verbrannt zu haben. Über Polizisten, die die Studenten zuvor an die verbündete Bande übergeben haben. Und über die mutmaßliche Verwicklung von Igualas Bürgermeister. Vielleicht meinte der Generalstaatsanwalt "es reicht" nur im Sinne von Ermüdung, vielleicht war er auch selbst der Strukturen überdrüssig, die er offengelegt hatte. Vielleicht hatte er erkannt, dass es so nicht weiter geht.
Die zornigen Menschen, die in Mexiko erneut auf die Straße gehen, haben etwas anderes verstanden: "Jetzt muss es mal gut sein." Es ist aber nicht gut, nichts kann gut sein in einem Land, in dem Massenentführungen und Exekutionen so alltäglich geworden sind, dass zentrale Ermittlungen auch im Fall von Iguala zunächst einmal gar nicht für notwendig gehalten wurden. Bis heute verweist die Regierung von Präsident Peña Nieto darauf, dass die lokalen und regionalen Behörden zuständig seien. Deren Versagen, deren Verflechtung mit dem organisierten Verbrechen wird mit Abscheu und Empörung verurteilt - zu Recht, aber Iguala ist kein Einzelfall. Auch in anderen Kommunen und Bundesstaaten arbeiten Kartelle und korrupte Behörden Hand in Hand.
Wie müde darf ein Staat sein, wie desinteressiert ein Präsident? Offensichtlich sind Mexikos Institutionen morsch und ausgelaugt, ganz offensichtlich haben die Menschen kein Vertrauen mehr in den Staat. Dass der Präsident diesen Unmut immer noch nicht auf sich zu beziehen scheint, ist nicht nachzuvollziehen. Viel zu lange hat es gedauert, bis er sich den Familien der Opfer von Iguala zugewandt hat. Dass er ihnen mit Empathie begegnet - diesen Eindruck hat er nicht erweckt. Viel eher scheint es so, als ob Peña Nieto sich durch die Ereignisse in seinen Regierungsgeschäften gestört fühlt, weil sie sein ehrgeiziges Reformprogramm gefährden und den Ruf Mexikos beschmutzen - den Ernst der Situation scheint der Präsident nicht erkannt zu haben.
Iguala ist ein Wendepunkt. "Ya me cansé" ist zum Schlachtruf der demonstrierenden Studenten geworden, zum Aufschrei im Internet, zur wütenden Forderung nach einem Rücktritt des Generalstaatsanwalts und des Präsidenten - für einige auch zur Rechtfertigung für gewalttätige Proteste. Doch reflektiertere Stimmen mahnen bereits, dass all dies keine Lösung ist. Was käme nach einem Rücktritt?
Mexiko braucht eine grundsätzliche Debatte über all das, was so schrecklich falsch gelaufen ist in diesem Staat, der doch gerade an einer Wende zum Besseren zu stehen schien. Aber Wirtschafts- und Bildungsreformen nützen nichts, wenn die Strukturen des Staates verrottet sind, wenn die Grundpfeiler der Institutionen in einem Sumpf stehen. Die Protestbewegung hat bisher weder Anführer noch klar formulierte Ziele, die etablierten Parteien sind sämtlich diskreditiert, die Regierung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren und die Menschen haben keine Geduld mehr.
Wenn der Präsident jetzt nicht glaubwürdig und entschieden handelt, droht Anarchie. Nur er kann einen breiten Dialog in Gang setzen, an dem auch diejenigen Kräfte der Zivilgesellschaft beteiligt sind, die bisher nur auf der Straße eine Stimme haben. Nur er kann dazu - neben Vertretern der Menschenrechtsorganisationen, der Studenten und der Kirchen - auch internationale Beobachter einladen. Vor 25 Jahren haben die Menschen in Polen mit einer solchen Debatte zu einer echten Demokratie gefunden. Mexiko ist anders, aber auch Mexiko braucht heute einen Runden Tisch!