Religiosität ist nicht das Problem
10. Januar 2015Es ist Zeit für ein Bekenntnis: Ich bin katholischer Christ. Und ich bin es gerne. Mein Glaube gibt mir Kraft. Und das gute Gefühl, mehr zu sein, als nur eine Laune der Natur, mehr als allein ein biologischer Zufall, der aus dem Nichts kam und irgendwann wieder im Nichts verschwindet. Ich bin ein Abbild Gottes, den die Juden Jahwe und die Muslime Allah nennen. Das steht im Buch Genesis, das den Juden und Christen heilig ist. Und ich habe deswegen - wie auch alle anderen Menschen - eine Würde. Eine Würde, die unantastbar ist. Und die zu achten und zu schützen die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist. Was nicht zufällig, sondern genau deshalb im ersten Satz von Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes steht.
Der Staat schützt meinen Glauben
Wer einen solchen Halt im Glauben nicht braucht - bitteschön. Die freien Gesellschaften des Abendlandes zwingen niemanden, etwas Bestimmtes oder überhaupt etwas zu glauben. Doch auch wenn dem deutschen Staat die Art meines Glaubens völlig egal ist, so steht er doch an der Seite aller Gläubigen: Denn er gewährleistet die "ungestörte Religionsausübung". Auch das steht ganz vorne im Grundgesetz. Aus diesem Grund muss ich es zum Beispiel nicht akzeptieren, wenn im Weihnachtsgottesdienst eine junge Frau nackt auf den Altar im Kölner Dom springt und "I am God" ruft. Sondern ich kann mich darüber freuen, dass sie vor Gericht zu einer ordentlichen Geldstrafe verurteilt wurde.
Anderes muss ich sehr wohl akzeptieren. Auch wenn es mich zuweilen maßlos ärgert. Weil es Dinge in den Schmutz zieht, die mir wichtig, ja heilig sind. Wenn zum Beispiel der gekreuzigte Christus als "Latten-Jupp" oder "Balken-Sepp" verhöhnt wird. Oder der Papst als Oberhaupt der katholischen Christen mit einem Urin-Fleck auf der Soutane dargestellt wird und die Überschrift lautet: "Undichte Stelle im Vatikan gefunden". Kein Kabarettist und kein Zeichner einer Satire-Zeitschrift sitzt deswegen in Deutschland im Gefängnis. Weil solche Provokationen unter die Rede-, Kunst- oder Pressefreiheit fallen. Und ich als gläubiger Christ ihnen ja aus dem Weg gehen kann: Ich muss solche Kabarett-Abende nicht besuchen oder kann sie verlassen. Und ich brauche entsprechende Magazine weder zu lesen noch muss ich sie kaufen. Als gebildeter Christ tröste ich mich mit einem Goethe-Zitat: "Durch nichts bezeichnen die Menschen mehr ihren Charakter als durch das, was sie lächerlich finden."
All das ist Erbe der Epoche, die Historiker die "Aufklärung" nennen. Ganz vereinfacht geht es um ein Geschäft auf Gegenseitigkeit: Ich erhalte die Freiheit zu glauben, was ich will, und akzeptiere dafür die Freiheit der anderen, dazu zu sagen, was sie wollen. Oder noch kürzer: meine Rechte für die Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Nur persönlich beleidigen darf mich niemand. Und Gotteshäuser - ganz gleich ob Kirchen, Synagogen, Moscheen oder buddhistische Tempel - sind geschützte Räume. Seit rund 300 Jahren machen Europa und Nordamerika ganz hervorragende Erfahrungen mit diesem Prinzip.
Keine Abstriche an der Toleranz
Das "aufgeklärte Abendland" kann und darf hiervon keinerlei Abstriche machen. Wer also hier leben will, muss diese Regeln akzeptieren. Das ist keine Zumutung - auch wenn das konservativen Christen manchmal genauso als eine solche erscheinen mag wie radikalen Muslimen. Und wer Gewalt anwendet, um religiöse Ziele durchzusetzen oder Gegner des eigenen Glaubens auszuschalten, verlässt im Jahr 2015 ohnehin jede zivilisatorische Grundlage. Das sehen nicht nur nahezu alle Christen Europas so, sondern auch mehr als neun von zehn hier lebenden Muslimen. Die nämlich längst begriffen haben, dass Regeln, wie sie in vielen islamisch geprägten Ländern gelten, ihnen das offene Praktizieren ihres Glaubens in Europa unmöglich machen würden. Und die europäische Toleranz daher wertschätzen.
Was gläubige Muslime jedoch genauso sehr verletzt wie mich: wenn die brutalen Taten von wenigen radikalen Spinnern eine ganze Religion und Religiosität überhaupt in Misskredit bringen. Wenn an Tagen wie diesen behauptet wird, dass eine Welt ohne Glaube an Gott eine bessere Welt sei. Weil Religiosität doch ohnehin stets in Radikalität münde. Nein - dagegen verwahre ich mich! Mein Glaube ist mir etwas sehr Wertvolles, und ich werde ihn mir nicht nehmen lassen. Mein muslimischer Nachbar sieht das im Übrigen genauso.