Peter Handkes Publikumsumschmeichlung
Von Serbien kein Wort. Wozu auch? Peter Handke hat in seiner Nobelpreisrede über das gesprochen, was ihm wichtig ist. Was in den letzten Wochen der Öffentlichkeit wichtig war, Handkes Haltung zu den Kriegen im früheren Jugoslawien, gehört nicht dazu. Der Blick des Dichters geht an den großen Tragödien, den Haupt- und Staatsaktionen, vorbei. Er richtet sich auf das Kleine, Unscheinbare, Übersehene.
Die Themen des Dichters sind das Blümelein am Wegesrand und der Vogel im Gezweig. Krieg, die Panzer auf dem Asphalt, die braune Patronentasche: Das alles ist nicht das Wirkliche. Das Wirkliche ist das "Bergblau" seiner Kärntner Heimat.
Das letzte Wort hat der Dichter
Provoziert hat Handke diesmal nicht. Aber versöhnt hat er auch nicht mit seinem schrulligen Auftritt, einem wohl gesetzten Kontrapunkt zur Eloquenz der Politiker und der Journalisten. Ohne zu schimpfen und zu polemisieren, wie er es sonst gern tut, hat Handke die Gelegenheit genutzt, einem einflussreichen Publikum sein poetologisches Programm vorzutragen.
Alles kann uns erheben, so seine Botschaft, überall findet sich das Kleine, Unscheinbare, das uns mit dem Eigentlichen, dem Göttlichen in Berührung bringen. Was wir alle für selbstverständlich halten, kann, wenn es einmal Eingang in die Literatur gefunden hat, etwas ganz anderes werden. Das gilt buchstäblich für alles, wie gezeigt werden musste, selbst für sieben- bis achttausend Tote in Srebrenica. Die "sogenannte Welt" mag um Wahrheit oder Lüge streiten: Das letzte Wort hat immer der Dichter. An den Kriegen, gerade an diesem brutalen Eingriff in unsere Wirklichkeit, konnte Handke darlegen, wie umfassend er seinen Anspruch versteht.
An den Debatten vorbei
Die Debatten der letzten Wochen handelten schon nicht mehr davon, was in Bosnien und im Kosovo wirklich geschehen ist, wie viele Menschen umkamen, wer Recht hatte und wer schuld war. Das Thema war das Recht des Dichters auf seine eigene Wahrheit. Um solche Fragen wird gerade jetzt auch weit abseits der Schwedischen Akademie gestritten - auf Facebook und Twitter zum Beispiel, oder zwischen Donald Trumps Pressesprecher auf der einen und der New York Times auf der anderen Seite. Das scheinbar Zeitlose passt, so ein Zufall, perfekt in die Zeit.
Der Nobelpreis war für die Vertreter der "alternative facts" ein bedeutender Punktsieg. Unter ihnen hat Handke sich jetzt eine Gemeinde geschaffen. "Meine Leser" nennt er sie. In Wirklichkeit ist die Gemeinde viel größer, und das das Lesen gehört gerade nicht zu ihren Leidenschaften. Aber gerade den Geschmack dieser ausgeprägt konservativen Anhängerschaft hat Handke in seiner Rede bedient.
Umschmeichelnde Poesie hilft nicht
Lange Zitate aus der Lauretanischen Litanei, einem leiernden Gedicht, das auf Prozessionen gesprochen wird, gefielen den Katholiken, und dass die Zitate alle auf Slowenisch waren, mochte zu Handkes Freunden im früheren Jugoslawien ausstrahlen. Die Schweden wiederum bekamen ein Gedicht ihres Nobelpreisträgers Tomas Tranströmer vorgelesen, auf Schwedisch. Wer mit Poesie nichts anfangen kann, darf sich nach Handkes Worten wenigstens für "erhebbar" halten und damit vom Getöse des Pöbels abheben. Der Autor der Publikumsbeschimpfung ist zum Publikumsschmeichler geworden.
Wer immer noch auf seinen Erfahrungen, vom Krieg, von Serbien und Bosnien redet, gehört dagegen zu den "Freudeverderbern". "Habt ihr euren Krieg nicht hinter euch?", ruft der Dichter ihnen aufmunternd zu und empfiehlt den Opfern der Kriege, nun die Toten tot sein zu lassen und die "Ruhe der Überlebenden" zu zeigen.
Der gut gemeinte Rat dürfte nicht angenommen werden. Wie Literatur wirklich helfen kann, hat sich nicht jetzt in Stockholm, sondern vor zwanzig Jahren in Blace gezeigt, einem Ort an der nordmazedonisch-kosovarischen Grenze, wo 1999 hunderttausend Vertriebene strandeten. Der größte Andrang von Flüchtlingen herrschte nicht vor der Essensausgabe, sondern vor dem Zelt, wo jeder seine Fluchtgeschichte erzählen konnte. Das Thema war die Wahrheit.