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Kommentar: Ohrfeige für Osteuropa

Michael Knigge Kommentarbild App *PROVISORISCH*
Michael Knigge
10. Juni 2015

Eine Mehrheit der Deutschen will nach einer Umfrage NATO-Verbündeten im Ernstfall nicht militärisch zu Hilfe kommen. Das ist nicht nur beschämend, sondern droht das Bündnis auszuhöhlen, meint Michael Knigge.

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Symbolbild NATO Sicherheitspolitik Flagge
Bild: Fotolia/Zerbor

Es ist ehrlich. Es spiegelt die Stimmung wieder. Und es ist ein Armutszeugnis. Laut einer neuen Pew-Umfrage lehnt eine Mehrheit der Deutschen es ab, im Angriffsfall einem NATO-Partner gegen Russland militärisch beizustehen. Zwar ist das Ergebnis der Studie nicht sonderlich überraschend. Schließlich wurde die schleichende Abkühlung des transatlantischen Bündnisses seit dem Fall der Berliner Mauer immer wieder diagnostiziert und kritisiert. So gab beispielsweise im Vorjahr erstmals eine Mehrheit der Deutschen in einer Umfrage des German Marshall Fund zu Protokoll, die Bundesrepublik solle sich in der Außen- und Sicherheitspolitik unabhängiger von den USA machen.

Geändert hat sich über die Jahre wenig - trotz zahlreicher Sonntagsreden zur Neugestaltung des transatlantischen Bündnisses und Initiativen wie "Pooling und Sharing" oder "Smart Defense". Vom immer wieder selbstgesteckten und - mit wenigen Ausnahmen - stets unerreichten Ziel, jedes Mitglied solle mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgeben, ganz zu schweigen. Fakt ist: Das transatlantische Bündnis ist schon lange angezählt.

Kern des Vertrags obsolet

Und dennoch ist die jüngste Umfrage wichtig, weil sie in aller Deutlichkeit die Kernfrage des transatlantischen Bündnisses stellt: die Beistandspflicht nach Artikel 5 des NATO-Vertrags. "Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird", heißt es in dem aus dem Jahr 1949 stammenden Verteidigungspakt.

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DW-Redakteur Michael Knigge

66 Jahre später - und konfrontiert mit einem angesichts des russischen Verhaltens in der Ukraine zumindest im Bereich des Möglichen liegenden Beistandsszenarios - erklärt eine Mehrheit der Deutschen den Kern des NATO-Vertrags nun praktisch für obsolet. Militärische Unterstützung für die baltischen Staaten im Falle eines großen russischen Angriffs? Nein, danke, sagen dazu 58 Prozent der Deutschen. So ernst haben wir das mit der kollektiven Verteidigung dann doch nicht gemeint.

Dies ist angesichts der deutschen Vergangenheit beschämend und geschichtsvergessen. Es ist eine schallende Ohrfeige für die Osteuropäer, aber mit Blick zum Beispiel auf die Berlin-Blockade, auch für die Amerikaner. Wenn es wirklich ernst wird, so die Botschaft aus Deutschland an die Balten, Polen und Amerikaner, dann unterstützen wir euch möglicherweise moralisch, aber gewiss nicht militärisch. Nun mag die konkrete deutsche militärische Unterstützung angesichts der Materialprobleme der Bundeswehr für die Verbündeten noch zu verschmerzen sein. Aber der symbolische Schaden ist groß - und wird nachwirken.

Aushöhlung des Bündnisses

Das bedeutet übrigens nicht, dass der NATO-Vertrag unantastbar ist. Das ist er nicht. Man kann durchaus argumentieren, dass das transatlantische Militärbündnis anachronistisch ist und angepasst oder gar abgeschafft werden muss. Aber dann sollte man dies auch offen aussprechen und umsetzen. Wenn die Deutschen und zwei weitere große NATO-Mitglieder nicht bereit sind, Verbündeten im Ernstfall notfalls auch militärisch beizustehen, hat die Aushöhlung des Bündnisses möglicherweise bereits begonnen. Es wäre jetzt höchste Zeit, entweder gegenzusteuern, um das Bündnis zu retten, oder realistische Alternativlösungen zu präsentieren. Leider lehrt die Vergangenheit, dass die Deutschen und die Europäer wahrscheinlich weder das eine noch das andere tun werden.