Neue Lage, neue Bundeskanzlerin?
15. Januar 2015Risikofreudig, kämpferisch, emotional - alles Eigenschaften, die einem nicht sofort einfallen, wenn man die "mächtigste Frau der Welt" (Forbes-Magazin) charakterisieren soll. Auch in ihrer Regierungserklärung zu den Terroranschlägen in Paris hat Angela Merkel ihre Stimme nicht erhoben, ihre Faust nicht geballt oder Tränen in den Augen schimmern lassen. Was also veranlasst so viele Kommentatoren in Deutschland zu der Einschätzung, die Bundeskanzlerin sei dabei, sich neu zu erfinden?
Beweis 1: Dieses Foto, eine Momentaufnahme vom Trauermarsch in Paris: Die kühle Kanzlerin, die physische Nähe zu ihren Kollegen immer vermieden hat, lehnt sich an den französischen Präsidenten, schließt die Augen, wirkt weich, emotional. Angeblich ist nichts zufällig im Auftritt Angela Merkels.
Beweis 2: Sie stellt sich demonstrativ vor die Muslime in Deutschland. Ausdrücklich hat sich die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende dem Zitat des früheren Bundespräsidenten Wulff angeschlossen, auch der Islam gehöre inzwischen zu Deutschland. Das ist tatsächlich neu: 2010 hatte sie Wulff diese Bestätigung noch verweigert, jetzt hat sie sie innerhalb von vier Tagen gleich zweimal eingesetzt. Zum ersten Mal beim Besuch des türkischen Ministerpräsidenten am Montag. Danach hagelte es Kritik, aus der eigenen Partei, aus der Schwesterpartei CSU, vom American Jewish Congress und auch viele ihrer Wähler sind nicht davon überzeugt. Trotzdem wiederholt sie das gesamte Zitat erneut in ihrer Regierungserklärung.
Beweis 3: Angela Merkel bezieht ohne Wenn und Aber klare Position gegen die anti-islamischen Pegida-Demonstrationen, wählt emotionale Worte, spricht von Hass und Kälte, die sie in manchen Herzen sehe. Sie nimmt jeden, der bei Pegida mitläuft, als Bürger in die Verantwortung. Es ist unklar, wie groß die schweigende Mehrheit hinter diesen Aufmärschen ist, Stimmenverluste aber riskiert sie auch hier.
Gegenbeweis? Der Bundeskanzlerin wird nachgesagt, sie regiere nach Umfragen, nach der Stimmungslage in der Bevölkerung. Ihre Auftritte, ihre Reden, ihre Gesten der vergangenen vierzehn Tage sprechen auf den ersten Blick eine andere Sprache. Aber eigentlich vollzieht Angela Merkel nach, was in den vergangenen Wochen außerhalb des Kanzleramts angefangen hat: Die deutsche Gesellschaft verabschiedet sich vom scheinbar kuscheligen Konsens. Sie re-ideologisiert sich, geht zu Zehntausenden auf die Straße, bezieht - wenn auch teilweise krude - Position und erwartet das auch von ihrem Führungspersonal. Angela Merkel hat in ihrer Regierungserklärung eine demokratische Rückbesinnung gefordert. Demokratie aber bedeutet immer auch Konflikt, auszutragen mit Argumenten. Alle, auch die Bundeskanzlerin, müssen dafür ihre Komfortzone verlassen. Der Prozess hat begonnen.