Sie streiten sich, sie handeln gegeneinander, sie treffen sich auf Gipfeln und vertagen sich doch - Europas Regierungschefs und Europas Innenminister, auch deren Fachleute für die Bewältigung der Flüchtlingskrise. "Es geht längst nicht mehr allein um die Lösung der Flüchtlingskrise", sagt Bundespräsident Joachim Gauck nun. Recht hat er.
Aber er wirbt sogar um Verständnis für jene Staaten, die auf Abgrenzung und geschlossene Grenzen setzen. Es müsse doch denkbar sein, dass sich europäische und regionale "Lösungen ergänzen können". Da nennt er "Be- beziehungsweise Abgrenzungsstrategien" - "ergänzen können". Zäune zu akzeptieren - das ist eine harte Forderung! Dies scheint dem Bundespräsidenten der Preis, um zu mehr Gemeinsamkeit in Europa zurückzukehren. Denn auch daran erinnert Gauck: Nur vereint und mit vereinten Kräften, mit vereintem politischem Gewicht wird Europa zur Eindämmung und Bekämpfung von Fluchtursachen beitragen.
Flucht in eine neue Nationalstaatlichkeit
In den vergangenen Wochen öffnen sich neue Gräben in Europa. Die deutsche Bundeskanzlerin, die seit Monaten für einen gemeinsamen Kurs - für die Stärkung der europäischen Außengrenzen, gegen strikte Obergrenzen für Flüchtlinge - wirbt, verlor reihenweise Bündnispartner. Zuletzt setzte sich ausgerechnet Österreich ab, Merkels Partner der ersten dramatischen Stunden vom September 2015, und ging mit den Staaten des Westbalkan einen eigenen Weg. Die europäische Seele, so es sie denn mal gegeben hat, entschwindet. Grund ist längst nicht nur Populismus. Es ist neue Nationalstaatlichkeit aus Furcht vor dem großen ganzen, dem zu großen ganzen in den Zeiten der Globalisierung.
Vielfältige Spannungen innerhalb der Europäischen Union, diagnostiziert Gauck, "nicht zum ersten Mal, aber so stark wie kaum je zuvor". Der ehrliche Wille zur Gemeinsamkeit sei derzeit zu schwach. Und im Ergebnis sei die EU schwach. Daraus klingt Desillusionierung. Das Europa von heute ist nicht der in Frieden auferstehende Kontinent von Konrad Adenauer, Robert Schuman oder Alcide de Gasperi. Keine Vision einer besseren Zukunft, sondern nüchterne und ernüchternde Realpolitik auf der unübersichtlichen europäischen Rumpelstrecke.
Bemerkenswert, dass der Bundespräsident nicht in erster Linie die einfachen Bürger warnt, "Ängsten und Stimmungsmachern" zu folgen. Nein, sein wichtigster Adressat sind die Regierungen. So richtet sich seine Mahnung vor allem an die politischen Verantwortungsträger in Mittel- und Osteuropa, wie auch an die deutsche Politik. Und vielleicht ist es die bittere Mahnung, auch jene weiter einzubinden, die Zäune bauen und Abgrenzung wollen.
Erschreckende Schwäche der EU
Joachim Gauck hat sich schon mehrfach in diesem Jahr zur aktuellen Flüchtlingskrise geäußert. Im Januar beim Weltwirtschaftsforum in Davos (wo ebenfalls "Begrenzung" wiederholt in seiner Rede auftauchte), in einem großen Radio-Interview Anfang Februar. Und beide Male wirkte es wie ein Brückenbau auch für die deutsche Kanzlerin. Nun mahnt er - gewiss auch Angela Merkel - in der Flüchtlingskrise stärker den europäischen Zusammenhalt zu bedenken.
Gauck erinnert die Europäer an die Dramatik der gegenwärtigen Situation, an das Schicksalshafte in einem Moment der europäischen Geschichte. Das ist gut so. Und doch - seine sinnvolle Mahnung macht auch die erschreckende Schwäche der EU deutlich. Denn ein Kontinent mit 500 Millionen Einwohnern bewältigt nicht die Aufnahme von zwei oder drei Millionen Flüchtlingen - allein der Libanon hat deutlich mehr Hilfe zu stemmen. Der aktuelle Streit - auch das spricht aus der Rede - zeigt den europäischen Kontinent in der Krise, der Sinnkrise. Es ist ein Schicksalszeit für Europa. Und damit auch für Deutschland.
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