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Erdoğan kämpft ums politische Überleben

Seda Serdar Kommentarbild App
Seda Serdar
23. August 2015

Nach dem Scheitern der Koalitionsverhandlungen hat Staatspräsident Erdoğan für den Herbst Neuwahlen ausgerufen. Damit verfolgt er eine klare politische Agenda, meint Seda Serdar. Dass sie aufgeht, ist aber nicht sicher.

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Präsident Tayyip Erdogan, 30.05.2015 (Foto: Getty Images)
Bild: Getty Images/G. Tan

Recep Tayip Erdoğan hat gehalten, was er versprochen hat: Er gab der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) keine Chance, sich an der Regierung zu beteiligen. Durch diese Entscheidung wird er der erste Präsident in der Geschichte der Türkei, der der Partei mit den zweitmeisten Stimmen die Möglichkeit zur Regierungsbeteiligung nimmt. Seine Begründung wirft Licht auf sein Verständnis davon, wie Politik in der Türkei zu funktionieren hat.

Weil die Anstrengungen seiner Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) bei der Regierungsbildung ohne Erfolg geblieben sind, sah Erdoğan keine passende Koalitionsmöglichkeit mehr. Das zeigt einmal mehr, dass Präsident Erdoğan, der der Verfassung zufolge ja über den Parteien stehen sollte, nicht gewillt ist, eine Regierung ohne Beteiligung seiner AKP zu dulden.

Nun wünscht sich Erdoğan am 1. November einen weiteren Wahlgang. Das erklärt er, noch bevor die offizielle Frist zur Regierungsbildung verstrichen ist. Diese Wahlen wecken in der AKP Hoffnungen auf eine Wiederholung jener glorreichen Tage des Jahres 2002 , als sie die Wahlen erdrutschartig gewann.

Allerdings unterscheidet sich die damalige Türkei sehr von der heutigen. Im Jahr 2002 tötete die verbotene Kurdische Arbeiterpartei (PKK) insgesamt sechs türkische Sicherheitsoffiziere. In der vergangenen Woche starben neun Menschen allein an einem Tag. Seit Mitte Juli fordern Terrorangriffe fast täglich neue Opfer. Im Jahr 2002 verhandelte die Türkei mit Al-Kaida, und nur wenige Bürger sympathisierten mit der Terrorgruppe. Heute dagegen schließt sich dem "Islamischen Staat" eine alarmierend hohe Zahl von Türken und ausländischen Kämpfern an. Dieses Phänomen lässt sich von der derzeitigen türkischen Politik nicht trennen.

Seda Serdar (Foto: DW)
Seda Serdar, Leiterin der türkischen Redaktion

Riskantes Kalkül

Zwar hofft die AKP, dass die wichtigste pro-kurdische Organisation in der Türkei, die Demokratische Volkspartei (HDP) aufgrund der anhaltenden Angriffe der PKK an Stimmen einbüßen wird. Trotzdem ist denkbar, dass die Wähler die Regierung für ihre Unfähigkeit, Frieden und Ordnung herzustellen, zur Verantwortung ziehen werden. Das gilt besonders für den Südosten der Türkei.

Die politische Instabilität und die Terrorangriffe haben die türkische Öffentlichkeit nicht nur weiter polarisiert. Sie wirken sich auch auf die türkische Wirtschaft aus - was sich ebenfalls negativ auf das Wahlkalkül der AKP auswirken könnte.

Einige Umfragen zeigen, dass die AKP nicht die zur Alleinregierung nötigen Stimmen erzielen wird. Stattdessen könnte die HDP drittstärkste Kraft im Parlament werden, und die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) könnte es auf den vierten Platz schaffen. Andere Erhebungen zeigen hingegen an, dass die AKP sehr wohl die stärkste politische Kraft werden und eine eigene Mehrheit bilden könnte.

Es ist interessant zu beobachten, dass im Vorfeld der vorgezogenen Neuwahlen so unterschiedliche Umfrageergebnisse in den Medien zirkulieren. Es zeigt, dass bestimmte Kräfte die Wähler schon jetzt in ihrem Sinn zu beeinflussen suchen.

Buhlen um Stimmen der Auslandstürken

In der Zwischenzeit versucht die AKP die an die HDP verlorenen Stimmen in der Diaspora wieder gutzumachen. So erklärte kürzlich ein AKP-Vertreter, im türkischen Parlament sollten auch Vertreter außerhalb des Landes lebender Türken vertreten sein.

Ein solcher Plan würde bedeuten, dass die Zahl von 550 Parlamentsmitgliedern zwar erhalten bliebe, wohl aber umgeschichtet werden müsste, wenn Platz für 15 Vertreter der Auslandstürken entstehen soll. Eine solche Änderung ist laut Verfassung bis zu den kommenden Wahlen nicht möglich. Das sehen auch Verfassungsrechtler so.

Dennoch dürfte Erdoğan versuchen, die im Ausland lebenden Türken stärker in den Wahlkampf einzubinden. Dadurch gerät Deutschland ins Rampenlicht, denn ein erheblicher Teil der Stimmen der Diaspora wird hier abgegeben.

Andererseits zeigt der Besuch des HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas in Stockholm, dass auch er sich um kurdische Stimmen bemüht. Es scheint, als würde der kommende Wahlkampf nicht allein in der Türkei ausgetragen. Schließlich werden die Wahlen auch zum Kampf ums politische Überleben, vor allem für Erdoğan.

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