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Deutschland hat sich verändert

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Verica Spasovska
4. September 2016

Viele unterstützen den Satz: "Wir schaffen das." Doch die Kritik an der Flüchtlingspolitik Merkels wächst. Ein Jahr nach der Grenzöffnung ist Deutschland aber noch ein Hort der politischen Mitte, meint Verica Spasovska.

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Deutschland: Flüchtlinge in Bayern (Foto: DPA)
Bild: picture-alliance/dpa/Arm in Weigel

Es gibt einiges, das sich in Deutschland verändert hat in diesem Jahr. Vorneweg die schlechte Nachricht: Der Rassismus hat in Deutschland zugenommen. Die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD), die vor der Flüchtlingskrise an Zulauf verloren hatte, profitiert von der Angst vieler Deutscher vor den Flüchtlingen. Inzwischen liegt die AfD jüngsten Umfragen zufolge bundesweit bei 15 Prozent. Noch bei der letzten Bundestagswahl kam sie nicht über die Fünfprozenthürde und verfehlte damit den Einzug ins Parlament. Aber heute sieht das anders aus. Fremdenfeindlichkeit ist salonfähig geworden in Deutschland.

Anderes Verhältnis zur Kanzlerin

Allerdings muss man diese Tatsache in den europäischen Vergleich einordnen: In Frankreich und Bulgarien zum Beispiel sitzen die Rechtspopulisten mit über zwanzig Prozent in den Parlamenten, in Ungarn und in Polen stellen sie sogar die Regierung. In Großbritannien hat die fremdenfeindliche UKIP-Partei die Initialzündung für den Austritt des Landes aus der EU gegeben. Im Vergleich zu den zutiefst nationalistisch gesinnten osteuropäischen Ländern ist Deutschland immer noch ein Hort der politischen Mitte und Stabilität.

Das Verhältnis der Deutschen zur Kanzlerin hat sich verändert: Ihre Beliebtheitswerte sind gesunken. Viele Deutsche sind unzufrieden mit der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Andererseits sind die Umfragewerte für die regierenden Unionsparteien immer noch stabil. Außenpolitisch ist die Kanzlerin weiterhin hoch angesehen. Auch wenn ihre Flüchtlingspolitik in vielen EU-Ländern nicht gutgeheißen wird, hat ihre Stimme bei den entscheidenden Fragen, zum Beispiel wie es nach dem Brexit weitergeht, nach wie vor Gewicht. Die humanitäre Geste gegenüber den Flüchtlingen wird nicht nur von US-Präsident Obama gewürdigt: "Deutschland ist auf der richtigen Seite der Geschichte".

Verica Spasovska (Foto: DW)
Verica Spasovska leitet die DW-Nachrichtenredaktion Online

Angst vor Terror wächst

Sie findet auch Anerkennung bei vielen Menschen in Afrika und im Nahen Osten: Weil Deutschland auf Worte auch Taten folgen ließ und Menschen in Not ins Land gelassen hat. Das Verhältnis der Deutschen gegenüber den Flüchtlingen hat sich verändert. Nach der anfänglichen Welle der Hilfsbereitschaft hat sich eine gewisse Ernüchterung breit gemacht. Die Übergriffe in der Silvesternacht, die islamistisch motivierten Anschläge von Ansbach und Würzburg haben unter den Deutschen die Angst vor islamistischem Terror geschürt, auch wenn die beiden Attentäter längst vor der Grenzöffnung im September 2015 nach Deutschland gekommen waren und auch die wenigsten Angreifer aus der Kölner Silvesternacht als Flüchtlinge nach Deutschland eingereist sind.

Heute wissen wir allerdings auch, dass Islamisten den unkontrollierten Strom der Flüchtlinge im vergangenen Jahr zur Einreise genutzt haben. Aber wären die Grenzen dicht geblieben, wäre Hunderttausenden hilfsbedürftigen Menschen nicht geholfen worden.

Allen Unsicherheiten zum Trotz ist die Hilfsbereitschaft, die seit dem vergangenen Herbst durch Deutschland rollt, immer noch zu spüren. Die Deutschen helfen, wo sie können: Sie bringen Flüchtlingskindern Deutsch bei, nehmen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge auf oder helfen bei der Arbeitssuche. Ohne das großartige ehrenamtliche Engagement Tausender Bürger wäre vieles nicht so gut organisiert worden. In Deutschland musste kein Flüchtling auf der Straße schlafen. Es geht den allermeisten Flüchtlingen, die nach Deutschland gekommen sind, heute besser als zuvor. Diese großherzige Geste der Aufnahme von Menschen in Not kann Deutschland zu Recht als Erfolgsgeschichte verbuchen.

Große Aufgaben stehen bevor

Aber die eigentlichen Herausforderungen stehen erst bevor. Die aufnehmende Gesellschaft muss viele Integrationsmaßnahmen einleiten, um die Kinder in die Schulen und die Erwachsenen in Arbeit zu bringen. All das kostet Geld und löst Neiddebatten aus, die den sozialen Frieden stören können. Gleichzeitig birgt die Flüchtlingskrise auch die Chance, die eigene Wertegemeinschaft selbstbewusster zu vertreten, als es in der Vergangenheit der Fall war. Es muss selbstverständlich sein, dass alle Flüchtlinge, die bleiben können, Deutsch lernen, die Werte der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft respektieren, das Grundgesetz über Bibel, Koran und andere heilige Schriften stellen und die Gleichberechtigung von Mann und Frau anerkennen. Gesetzesverstöße müssen umgehend geahndet werden und Abschiebungen von straffälligen Ausländern viel schneller erfolgen als bisher.

Solidarität gefordert

Ja, die Flüchtlingskrise hat die Deutschen aus ihrer Komfortzone geholt und verlangt ihnen viel ab. Sie stellt sie vor neue Herausforderungen und schafft gleichzeitig Chancen. Denn die gute Nachricht ist, dass in der Vielfalt der Kulturen auch ein großes Potenzial liegt, wenn es gelingt, den Flüchtlingen das Gefühl zu vermitteln, dass sie dazu gehören. Dann werden sie sich positiv in die Gesellschaft einbringen. Allein das Geld, das Flüchtlinge in ihre Heimat schicken, liegt über dem, was Deutschland an Entwicklungshilfe zahlt.

Wenn die Deutschen die Flüchtlinge nicht als Problem ansehen, sondern die Dinge realistisch betrachten, wenn sie feststellen, dass die Solidarität mit Menschen in Not eine Gemeinschaft stärken kann, dann werden wir rückblickend sagen können: Gut, dass sich Deutschland verändert hat!

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