Das nennt man wohl eine veritable Klatsche: "Das Verhalten… ist als sittenwidrig zu bezeichnen." Zudem geht das oberste deutsche Straf- und Zivilgericht im Falle von Volkswagen von einer "strategischen Unternehmensentscheidung durch arglistige Täuschung der Behörden" aus. Damit hat der Konzern nun eine höchstrichterliche Antwort auf die Frage, die sie in Wolfsburg nie wirklich beantworten wollten: Ja, sie haben getäuscht und betrogen. Sie haben gegen die "guten Sitten" verstoßen; der Bundesgerichtshof (BGH) attestiert dem Autobauer eine "vorsätzliche sittenwidrige Schädigung" seiner Kunden. Wer so etwas tut, verletzt einen der wichtigsten Grundsätze eines jeden Geschäfts, nämlich den von Treu und Glauben.
Wie sehr sie bei Volkswagen von der Wirklichkeit entfernt waren, zeigt schon die Tatsache, dass die Anwälte noch Anfang Mai, als der BGH sich erstmals mit der Klage des VW-Kunden Herbert Gilbert auseinandersetzte, noch davon ausging, das Gericht könnte die Klage vollständig abweisen. Weil er den Wagen ohne Einschränkungen fahren könne, habe der Kläger gar keinen Schaden erlitten. Die Sache mit der betrügerischen Software, die haben sie offenbar schlicht und einfach ausgeblendet.
Deutsche Kunden mussten lange warten
Entsprechend kleinlaut fällt nun die Reaktion von Volkswagen aus. Ganz plötzlich will man die vielen noch klagenden VW-Dieselkunden (derzeit rund 60.000) mittels Einmalzahlung entschädigen. Bedurfte es für diese Einsicht erst den langwierigen juristischen Weg bis vor das höchste deutsche Gericht für Zivil- und Strafsachen? Wie viel schneller es gehen kann, hat VW in den USA bewiesen, wo der Dieselskandal vor viereinhalb Jahren seinen Anfang nahm. Angesichts der Drohkulisse, die die Rechtslage dort ermöglicht, haben die Wolfsburger innerhalb kürzester Zeit mit zitternden Händen und schlotternden Knien über 20 Milliarden Dollar an US-Justiz und Verbraucher überwiesen.
Um wie viel billiger Volkswagen in seinem Heimatland davonkommt, machte unlängst schon der Vergleich deutlich, den der Bundesverband der Verbraucherzentralen mit den Anwälten des Konzerns in der Massenklage für 240.000 geschädigte VW-Kunden ausgehandelt hatte: Dafür muss der Autobauer vergleichsweise schlanke 750 Millionen Euro auf den Tisch blättern. Die Kunden bekommen Entschädigungen - abhängig von Alter und Modell des Fahrzeuges zwischen 1350 und 6250 Euro. Womöglich werden sich nun die ärgern, die sich der Massenklage angeschlossen hatten, wenn sie doch sehen, dass der in Karlsruhe erfolgreiche Kläger 25.600 Euro Schadensersatz zugesprochen bekommt (allerdings sein Auto zurückgeben muss).
Natürlich - und da zeigt sich dann doch, dass sie es in Wolfsburg noch immer nicht ganz verstanden haben - sprechen sie nun von einem Schlusspunkt im Dieselskandal. Das Gegenteil ist richtig. Ermutigt durch das Urteil von Karlsruhe dürften sich noch viel mehr getäuschte VW-Käufer auf den juristischen Weg machen, wohl wissend, dass sie das ohne Risiko tun können. Verbraucheranwälte rechnen mit bis zu 15.000 Kunden, die sich der Massenklage nicht angeschlossen haben und nun selbst vor Gericht ziehen wollen.
Noch kein Ende in Sicht
Und auch beim Bundesgerichtshof liegen noch Dutzende ähnlich gelagerte Fälle. Ganz zu schweigen von anderen Autoherstellern wie beispielsweise Daimler. Da baut sich die juristische Welle gerade erst auf, freilich nicht mit solcher Wucht wie gegen VW. Aber auch da wird das Urteil des heutigen Tages wegweisend sein.
Nicht zuletzt beim Europäischen Gerichtshof werden sie sehr genau hingehört haben. Denn auch dort geht es in einem noch laufenden Verfahren um sogenannte Abschalteinrichtungen in Dieselfahrzeugen. Kommen die die Richter dort zu dem Schluss, die eingesetzte Software ist eine solche Einrichtung und dient nicht nur dazu, Motoren bei Kälte zu schützen, wäre sie nach EU-Recht verboten. Dann könnten Millionen Verbraucher ihr Recht einklagen.
Ausgestanden ist der Dieselskandal für Volkswagen und Co also noch lange nicht.