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Politik

Ein Sieg des Volkes?

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Rainer Sollich
12. März 2019

Obwohl Präsident Bouteflika ankündigen ließ, auf eine fünfte Amtszeit zu verzichten, demonstrieren tausende Menschen weiterhin auf den Straßen in Algerien. Sie haben guten Grund dazu, meint Rainer Sollich.

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Algerien | Bouteflika verzichtet auf Kandidatur
Bild: Getty Images/AFP/R. Kramdi

Drei Wochen lang haben zehntausende Algerier gegen eine fünfte Amtszeit ihres Präsidenten protestiert. Nun wurden sie angeblich erhört. "Ich habe die Entwicklungen verfolgt und verstehe die Gründe der zahlreichen Bürger, die diese Art des Ausdrucks nutzen", ließ Algeriens staatliche Nachrichtenagentur etwas ungelenk im Namen von Dauer-Machthaber Abdelaziz Bouteflika verkünden. Dann aber folgte ein klares Statement im Namen des 82-Jährigen:"Es wird kein fünftes Mandat geben."

Genau das hatten die Menschen gefordert - und genau das haben sie nun auch erhalten. Wenngleich ungewiss ist, ob der schwerkranke Bouteflika dies wirklich selbst verfügt hat oder andere ihm die Worte in den Mund gelegt haben. Im staatlichen Fernsehen waren wieder nur tonlose Bilder des kranken Mannes von Algier zu sehen, den angeblich von ihm selbst verfassten Text durften wieder einmal andere vortragen. 

Vergiftetes Geschenk

Die Algerier können stolz darauf sein, ihren mutmaßlich gar nicht mehr handlungsfähigen Präsidenten mit - bisher zumindest - überwiegend friedlichen Mitteln und einer vorbildlichen zivilgesellschaftlichen Protestkultur zum Rückzug von der Staatsspitze bewogen zu haben. Sie stellen eindrucksvoll unter Beweis, dass sie entschlossen nach einer Reform des politischen Systems streben und sich auch künftig nicht mit billigen Tricks abspeisen lassen möchten. Deswegen sind sie am heutigen Dienstag (12.3.) auch gleich wieder zu Tausenden auf die Straße gegangen.

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DW-Redakteur Rainer Sollich

Denn das "Geschenk", das ihnen im Namen des Präsidenten im Rollstuhl verkündet wurde, ist durchaus vergiftet: Der von vielen Algeriern als "Mumie" oder "Marionette" verspottete Bouteflika will zwar kein fünftes Mal antreten. Doch die Neuwahlen, bei denen er im April kandidieren sollte, werden zugunsten eines angekündigten nationalen Reformprozesses verschoben. Konkret: Bouteflikas jetzige vierte Amtszeit soll noch einmal bis mindestens 2020 verlängert werden. Dass dieser Teil der offiziellen Mitteilung von den Demonstranten höchst misstrauisch aufgenommen wird, ist gut nachvollziehbar. Bouteflika regiert das Land bereits seit 1999.

Wie es nun weitergeht, ist offen. Mit Premierminister Ahmed Ouyahia wurde ein Politiker aus dem Amt entfernt, der für Algerien ein "syrisches Szenario" - also einen Bürgerkrieg - heraufbeschworen hatte. Das wurde in dem Land, das in den 1990er-Jahren einen Bürgerkrieg mit schätzungsweise bis zu 200.000 Todesopfern durchlebt hat, implizit als Drohung verstanden. Es gibt außerdem Spekulationen, dass der weithin anerkannte Diplomat und frühere Syrien-Vermittler der UN, Lakhdar Brahimi, künftig eine größere Rolle in der algerischen Politik spielen könnte. Beides könnte die Lage beruhigen, doch sicher ist dies keineswegs: Nicht nur, dass in Algier schon einen Tag nach Bouteflikas angekündigtem Etappen-Rückzug wieder Tausende auf die Straßen strömten. Für kommenden Freitag sind erneut landesweite Massenproteste angekündigt.

Wirklich bereit für einen Neuanfang?

Es ist zu hoffen, dass diese nur allzu verständlichen Proteste friedlich bleiben und nicht von interessierter Seite zur Stiftung von Chaos ausgenutzt werden. Auch die Demonstranten tragen dafür Verantwortung - mehr jedoch noch die Herrschenden! Jeder Algerier weiß, dass Bouteflika seit vielen Jahren von einem schwer durchdringbaren Machtzirkel aus Militärs, Geschäftsleuten, Partei- und Familienmitgliedern umgeben ist, der neben der politischen Macht auch die wirtschaftlichen Reichtümer unter sich aufteilt. Sind diese Kräfte wirklich bereit zu einem Neuanfang? Werden sie tatsächlich auf politische und wirtschaftliche Privilegien verzichten, um Algeriens rebellierender Jugend Jobs und Perspektiven zu verschaffen? Es wäre Algerien zu wünschen, doch Skepsis bleibt angebracht. Denn nicht auszuschließen ist, dass das algerische Marionettentheater lediglich in eine neue Runde geht.