Thomas Bach kneift die Augen etwas zusammen und fokussiert seinen Blick. Sein Mienenspiel wird ernst. Die Frage scheint ihn förmlich herauszufordern. Ob er auch all jenen Athleten noch in die Augen schauen könne, habe ich ihn gerade gefragt, die tief enttäuscht sind von seiner Entscheidung, über einen Umweg doch fast das gesamt russische Team zu Olympia zuzulassen. Kurz zuvor hatte der IOC-Präsident auf der Pressekonferenz noch gesagt, dass er diese "heikle Frage" nach dem Prinzip beantwortet habe: "Ich muss den Athleten nach der Entscheidung noch in die Augen schauen können." Bach holt Luft: "Ich kann den Athleten weiter in die Augen schauen, denn ich habe ein reines Gewissen", sagt Bach und beruft sich dabei auch auf eine "breite Unterstützung der Verbände". Dass es auch eine breite Opposition in Sport und Gesellschaft gegen seinen Kurs gibt, erwähnt er nicht. Es ist offensichtlich: Er sieht die Russland-Debatte als beendet an. Eine Fehleinschätzung.
Anti-Doping-Kampf als Showeinlage
Denn die Tatsache, dass nun doch 271 russische Athletinnen und Athleten an den Spielen teilnehmen werden, ist ein Schlag ins Gesicht für saubere Athleten, und die werden dieses Foul nicht einfach so vergessen. Erst Medienberichte und Insideraussagen, später ein umfassender Bericht der Welt-Anti-Doping-Agentur haben nachgewiesen, dass im russischen Sport systematisch und flächendeckend gedopt wurde. Und dabei handelt es sich nicht bloß um "individuelle Fälle", wie es beim IOC oft heißt, sondern um eine wahre Lawine des Betrugs. Doch auch die reicht nicht für den Ausschluss, findet Thomas Bach. Man habe "ein System der Gerechtigkeit angewendet", sagt der deutsche Weltsportchef. Eine steile These. Denn die IOC-Entscheidung, das Gros Russlands Olympioniken de facto zuzulassen, entlarvt den Anti-Doping-Kampf als Showeinlage.
Gerecht wäre es, wenn systematische Regelverstöße geahndet würden. Gerecht wäre es, wenn saubere Athleten vor Betrügern geschützt würden. Und gerecht wäre es auch, wenn der Sport solch wegweisende Entscheidungen unabhängigen Instanzen wie der Welt-Anti-Doping-Agentur überlassen würde. Nichts von dem ist geschehen. So steckt die gesamte olympische Bewegung, noch bevor die Spiele überhaupt richtig begonnen haben, in einer tiefen Glaubwürdigkeitskrise. Ein historischer Fehlstart.
Und es ist nicht das einzige Problem der Spiele in Rio. Ein anderes ist, dass die große Begeisterung immer noch fehlt. Rio ist dieser Tage eine hektisch-herzliche Metropole wie eh und je. Aber eben noch kein sportvernarrtes London 2012. Die Menschen hier sind, wenn man sie fragt, eher skeptisch, ob die Olympiabewerbung eine gute Idee war. Laut einer Umfrage der brasilianischen Tageszeitung Estadao glauben sogar 60 Prozent der Brasilianer, dass die 10,5 Milliarden Euro teuren Olympischen Spiele für ihr Land eher schlecht sind - und das in einem so sportbegeisterten Land. Zahlen, die das IOC alarmieren sollten.
Schon richten sich die Proteste auch gegen Olympia
Doch Bach ignoriert das. Er redet von einer Krise, in der sich das Land befindet, ja. Aber mit Olympia habe das alles nichts zu tun. Ein Irrtum. Denn die Proteste auf den Straßen von Rio und Umgebung der vergangenen Tage richteten sich auch gegen die Spiele. Sie sind ein Fanal. Studenten und Professoren, die gegen die schlechte Bildungssituation protestierten, stellten sich der Olympischen Fackel auf ihrem Weg ins Maracana ebenso in den Weg wie enteignete Bürger und Gewerkschafter. Der ebenso wütende wie enttäuschte Protest gegen die korrupte politische Elite des Landes mischt sich bereits mit dem "gegen olympische Katastrophen aller Art", wie ein Slogan dieser Tage auf der Copacabana lautete. Brasilien steckt tatsächlich in der Krise. Die Olympischen Spiele müssen aufpassen, nicht mit hineingezogen zu werden.
Doch noch besteht Hoffnung. Denn anders als beim 100-Meter-Lauf, wo der erste Fehlstart inzwischen zur Disqualifikation führt, gibt es nach dem sportpolitischen Fehlstart der Spiele eine zweite Chance für die Veranstalter. Wenn die Wettkämpfe erst einmal beginnen, so die verbreitete Hoffnung, werden sie die Menschen schon begeistern. Diese Hoffnung ist nicht unbegründet, so war es in der Vergangenheit schon oft. Doch die Macher der Spiele sollten sich nicht darauf verlassen und bereits jetzt über Reformen der Spiele nachdenken, die über Bachs Agenda 2020 hinausgehen. Sollten sie zu langsam aus den Startblöcken kommen, könnten die Probleme sie schnell wieder einholen.
Sie können unterhalb dieses Artikels einen Kommentar abgeben. Wir freuen uns auf Ihre Meinungsäußerung!